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Die Dauer der Grundschulzeit ist mal wieder in der Diskussion.

© dpa/Bernd Weißbrod

Studie zur Bildungsgerechtigkeit: Taugen Berlin und Brandenburg als Vorbilder?

Das renommierte ifo-Institut lobt die sechsjährige Grundschule und empfiehlt anderen Bundesländern die Nachahmung. Führende Bildungsforscher haben dafür nur bedingt Verständnis.

Taugt ausgerechnet das leistungsschwache Berlin als bildungspolitisches Vorbild? Dies besagte am Montag eine Studie des ifo-Institus für Wirtschaftsforschung: Sie bescheinigte Berlin und auch seinem Nachbarland Brandenburg die im Bundesvergleich höchste Bildungsgerechtigkeit. Festgemacht wird das daran, dass es prozentual mehr benachteiligte Kinder auf das Gymnasium schaffen.

Verblüffender als die Bestätigung der hinlänglich bekannten Niedrigschwelligkeit der Berliner Gymnasien wirkte die Schlussfolgerung der Autoren rund um den renommierten Bildungsökonomen Ludger Wößmann: Die Autoren postulieren, es „scheine“, dass es die sechsjährige Grundschule in Berlin und Brandenburg ist, die dieses bessere „Chancenverhältnis“ ermögliche. Der Tagesspiegel hatte dies am Montag berichtet.

Es gibt größere Baustellen als die Dauer der Grundschule.

Olaf Köller, Leibniz Institute for Science and Mathematics Education

Während die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sowie die Grünen in der Studie spontan ihre langjährigen Forderungen nach einer späteren Aufteilung der Kinder bestätigt sahen, meldeten Wissenschaftler Bedenken an.

„Ich würde keinem Land empfehlen, etwas an seinen aktuellen Strukturen zu ändern“, lautete am Dienstag die Reaktion von Olaf Köller. Er leitet das Leibniz Institute for Science and Mathematics Education in Kiel und kennt Berlins Schulprobleme als Leiter der Berliner Qualitätskommission besonders gut. Wie auch andere Forscher riet er schon in der Vergangenheit, sich besser um den Unterricht selbst zu kümmern als kostbare Zeit und Kraft in Umstrukturierungen zu investieren.

Im Übrigen scheine eine „größere Baustelle als die Dauer der Grundschule“ die frühkindliche Bildung zu sein, ergänzte Köller. Auf diesen Punkt weise ja auch das ifo-Papier hin.

Die Studie empfiehlt auch eine verbesserte Frühförderung

Tatsächlich nennen Wößmann und sein ifo-Team mehrere Empfehlungen. Dazu zählen neben der längeren gemeinsamen Beschulung und der besseren Kitaförderung auch die Konzentration der „besten Lehrkräfte an Schulen mit vielen benachteiligten Kindern“ sowie Mentoring-Programme und frühe kostenlose Nachhilfeprogramme für Benachteiligte.

Während die letztgenannten Punkte zu den gängigen Ratschlägen zählen und somit niemanden überraschten, lag der Fokus bei den Reaktionen auf dem unerwarteten Lob der sechsjährigen Grundschule. „Unerwartet“ vor allem deshalb, weil ausgerechnet Berlin und Brandenburg bundesweit zu den Problemfällen in Sachen „Schülerleistungen“ gehören.

„Es macht keinen Sinn, die Frage der Bildungsgerechtigkeit darauf zu reduzieren, ob Schülerinnen und Schüler auf das Gymnasium kommen“, betonte Petra Stanat, die Leiterin des Institus für Qualität im Bildungswesen. Man müsse auch betrachten, „was sie wissen und können und da steht Berlin im Vergleich zu anderen Ländern überhaupt nicht gut da“, so Stanat weiter. Sie warnte zudem vor „neuen Strukturdiskussionen“.

Warnung der Wissenschaft vor neuen Strukturdebatten

Die sechsjährige Grundschule in Berlin ist eine Besonderheit, die auf den Viermächtestatus zurückgeht. Brandenburg hatte als Nachbarland nach der Wiedervereinigung den gleichen Weg eingeschlagen.

Trotz der langen Tradition der sechsjährigen Grundschule reißt die Kritik an ihr nicht ab. Das hat vor allem damit zu tun, dass der Lehrkräftemangel dort noch schärfer ist als in den Oberschulen, und in Klasse 5 und 6 die dringend benötigten Fachlehrer extrem knapp sind. Der Unterricht findet großteils fachfremd statt.

Dies ist auch einer der Gründe dafür, dass etwa zehn Prozent der Kinder die Grundschule vorfristig verlassen: Über 50 Gymnasien und eine Sekundarschule beginnen schon mit Klasse 5.

Arnd Niedermöller von der Vereinigung der Oberstudiendirektoren zeigte sich am Dienstag befremdet darüber, dass die ifo-Studie die Quote des Gymnasialbesuchs als Beweis der Bildungsgerechtigkeit behandelt. Es sei eine „Schwäche“ der Studie, dass sie nichts über die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler aussage, stimmte er Stanat zu.

Bayern und Sachsen als Schlusslichter

Wie berichtet, fokussiert sich die Studie einzig auf die Frage, ob Schüler in Abhängigkeit von ihrer Herkunft ein Gymnasium besuchen. Demnach ist es in Berlin und Brandenburg etwa halb so wahrscheinlich, dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen ein Gymnasium besuchen wie Kinder aus günstigen Verhältnissen. Bundesweit ist der Unterschied jedoch noch wesentlich größer. Schlusslicht bei dieser Art des Rankings sind Sachsen und Bayern: Dort ist die Wahrscheinlichkeit, auf das Gymnasium zu kommen, für Kinder ohne hohes Elterneinkommen am geringsten. Neben dem Einkommen wurde auch zugrunde gelegt, ob die Eltern das Abitur haben.

„Bildung und Einkommen der Eltern sind entscheidende Faktoren für die Bildungschancen von Kindern in Deutschland. Aber dies gilt in den Bundesländern in unterschiedlichem Ausmaß“, wurde der Leiter des ifo-Zentrums, Ludger Wößmann, zitiert. Mitautor Florian Schoner betonte, dass das „große Ausmaß der Ungleichheit der Bildungschancen zum Glück nicht unumstößlich ist“. Politische Maßnahmen könnten Kinder aus benachteiligten Verhältnissen gezielt fördern, am besten schon im frühkindlichen Alter.

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