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Außenminister Frank Walter Steinmeier (SPD) legt im Oktober 2014 einen Kranz an der armenischen Völkermord-Gedenkstätte Tsitsernakaberd ab.

© Rainer Jensen/dpa

Genozid vor 100 Jahren an den Armeniern: Bundesregierung will nicht von Völkermord sprechen

Am 24. April 2015 jährt sich zum 100. Mal der Beginn des Völkermordes an den Armeniern. Die Bundesregierung vermeidet weiter, die Massaker klar als Genozid zu benennen.

Von Matthias Meisner

Mehr als 20 Staaten der Welt - von Argentinien bis Zypern - haben die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren klar als Völkermord bezeichnet. Darunter sind auch Frankreich, Italien, Polen und Russland. In vier Ländern - Griechenland, Schweiz, Slowakei und Spanien - kann die Leugnung des Völkermordes sogar strafrechtlich verfolgt werden. Die Bundesregierung aber will den Begriff "Genozid" weiterhin nicht verwenden, wie sie in einer dem Tagesspiegel vorliegenden Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion bestätigt.

Der 24. April bildet den größten Trauertag im armenischen Jahr - an diesem Tag im Jahre 1915 war die Masseninhaftierung und anschließende Deportation der intellektuellen, politischen und kulturellen Elite der Armenier in Konstantinopel der Auftakt für Massentötungen, denen nach Untersuchungen unabhängiger Historiker in den Jahren 1915 und 1916 mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen.

Eine Bewertung dieser "geschichtlichen Ereignisse" sollte Wissenschaftlern vorbehalten bleiben, erklärt die Bundesregierung. Sie ist der Auffassung, "dass die Aufarbeitung der Massaker und Vertreibungen von 1915/16 in erster Linie Sache der betroffenen Länder Türkei und Armenien ist".

Linke: Bundesregierung zieht sich aus Mitverantwortung

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke, die die Anfrage eingereicht hat, findet das inakzeptabel. Sie sagte dem Tagesspiegel, mit dieser Behauptung ziehe sich die Bundesregierung aus der Mitverantwortung für die damaligen Verbrechen. "Denn das deutsche Kaiserreich war als engster militärischer Verbündeter des Osmanischen Reiches sowohl Mitwisser als auch teilweise Mittäter." Mit ihrer Eingrenzung auf die Staaten Türkei und Armenien lasse die Bundesregierung zudem die millionenstarke armenische Diaspora, für die die Genoziderfahrung bis heute identitätsprägend sei, ebenso außen vor wie die türkeistämmige Migration in Deutschland. "Gerade letztere steht zum Teil unter dem Einfluss türkisch-nationalistischer Lobbygruppen und Regierungsstellen, die die Verbrechen an den Armeniern bis heute leugnen", sagte Jelpke.

Der Bundestag hatte vor zehn Jahren in einer parteiübergreifenden Resolution die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern verurteilt. Darin war die Rede von "Taten der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier in Anatolien geführt haben". Und: "Zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord." Der Begriff "Genozid" wurde auch damals vermieden. Aus Sicht der Linken ist die Regierung inzwischen sogar noch hinter die damalige Sprachregelung zurückgefallen.

Steinmeier war 2014 in Armenien

Planungen für eine eigene Gedenkveranstaltung zum 24. April 2015 verfolgt die Bundesregierung "zum gegenwärtigen Zeitpunkt" nicht, heißt es weiter. Vertreter des Zentralrats der Armenier in Deutschland und anderer armenischer Organisationen hätten den Wunsch nach einer Teilnahme von Vertretern der Bundesregierung an Gedenkveranstaltungen geäußert: "Die Bundesregierung prüft derzeit die Möglichkeiten einer Teilnahme." Außenminister Frank Walter Steinmeier (SPD) hatte Armenien zuletzt im Oktober vergangenen Jahres besucht und an der Völkermord-Gedenkstätte Tsitsernakaberd einen Kranz abgelegt. In der Linksfraktion hatte es 2007 heftige Auseinandersetzungen um die Armenien-Frage gegeben. Besonders umstritten war die Rolle von Hakki Keskin, damals Bundestagsabgeordneter der Linken und früherer Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

Ulla Jelpke
Ulla Jelpke

© Wolfgang Kumm/dpa

Streit um Lepsius-Haus in Potsdam

In der Antwort an die Linksfraktion gibt die Bundesregierung erstmals zu, dass es nur eingeschränkt gelungen ist, mit dem aus Bundesmitteln geförderten Lepsius-Haus in Potsdam zur Aussöhnung von Deutschen, Armeniern und Türken beizutragen. Diese "ursprüngliche Intention" sei "bislang nicht vollständig umgesetzt worden", erklärt Staatsminister Michael Roth (SPD). Als Grund dafür nennt er eine "von türkischer Seite pro-armenisch perzipierte Haltung" des Fördervereins Lepsiushaus, die in der Konzeption bisheriger Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum Ausdruck gekommen sei.

Jelpke sieht die Schuldfrage nicht in einer angeblich pro-armenischen Ausrichtung des Lepsiushauses. Sie meint: "Vielmehr erscheint das Haus eines christlichen Islammissionars, der zudem auch eine zwielichtige Rolle bei der Manipulation von diplomatischen Akten über den Genozid nach Kriegsende gespielt hatte sowie die einseitige Fokussierung auf die Person des Theologen als ungeeignet für einen solchen Begegnungs- und Versöhnungsauftrag."

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