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Träger des Leipziger Buchpreises: der Berliner Dichter Jan Wagner.

© imago/STAR-MEDIA

Interview mit dem Dichter Jan Wagner: „Alle Kleinigkeiten können zum Gedicht werden“

Das Poesiefestival in Berlin hat begonnen, bei dem sich jeder einen Reim auf Lyrik machen kann. Aber wie entsteht ein Werk? Und warum trifft die Lyrik nicht unbedingt den Massengeschmack? Ein Gespräch.

Berlin ist die deutsche Lyrikhauptstadt. Nirgendwo in Deutschland gibt es mehr Dichter und mehr Lyrik-Veranstaltungen – bis zum 11. Juni läuft noch das Poesiefestival. Trotzdem ist Lyrik eher kein Thema für die breite Masse. Wir sprachen darüber mit dem Berliner Jan Wagner, Berliner Dichter und Träger des Leipziger Buchpreises.

Warum sollte man sich für Lyrik interessieren?
Ich glaube, dass Lyrik jeden Leser etwas angeht. Das Gedicht bringt etwas ganz Fundamentales in uns zum Schwingen. Jedes Kind reimt gerne, jedes Kind liebt es, mit Sprache die Welt zu verändern. Das mag irgendwann verschüttet werden, aber man kann sehr schnell wieder daran anknüpfen – wenn man etwa in Schulen vorliest und die Schüler merken, dass es lebende, junge Dichter gibt.

Kann man vom Dichten leben?
Das ist eine Illusion, und man tut gut daran, nicht den Brotberufswunsch Lyriker zu haben. Doch wenn man anfängt zu schreiben, denkt man ja auch nicht daran, dass man davon leben könnte. Man fängt an zu schreiben, weil man es muss, weil man von Lyrik und den Möglichkeiten der Sprache begeistert ist.

Wovon leben sie dann?
Ich betreibe eine Art Dreifelderwirtschaft: ich übersetze, schreibe Lyrik und trage sie vor, schreibe Essays und halte Vortrage über Lyrik. Es hat also immerhin alles mit Gedichten zu tun.

Gibt es Orte in Berlin, die Sie zur Inspiration für Gedichte nutzen?
In Berlin kann man durch die Straßen laufen und wunderbare Kleinigkeiten finden, die zum Gedicht werden können. Oder man schnappt Wendungen, Erzähltes auf. Man müsste sich nur einen Tag lang ins Café Süß am Hermannplatz setzen und hätte genug Material für einen Roman oder mehrere Gedichte. Ich selbst gehe oft auf den Maybachmarkt oder am Landwehrkanal entlang.

Wie entscheiden Sie, aus was Sie ein Gedicht machen?
Schwer zu sagen. Das Schöne ist ja, dass alles zum Gedicht werden kann. Von Joseph Brodsky gibt es ein Gedicht über ein Glas Wasser. Man darf vermuten, dass er in einem Café saß, ein Glas vor sich stehen sah und sich dachte: Warum nicht ein Gedicht über ein Glas Wasser? So geht es mitunter. Man läuft durch die Straßen, und sieht zum Beispiel einen Nagel, der in einer Wand in Neukölln steckt. Der wird dann zu einem Gedicht.

Was macht für Sie ein gutes Gedicht aus?
Ein einfaches Rezept gibt es dafür natürlich nicht. Eine Sache allerdings haben alle gelungenen Gedichte gemein: Sie lehren uns, die Dinge anders wahrzunehmen. Ein gutes Gedicht lädt uns ein, die Sprache und die Welt neu zu sehen und damit neu zu denken. Lyrik lässt uns staunen, reißt uns aus dem Gewohnten heraus. Das ist auch durchaus das Politische an Gedichten. Ein gutes Gedicht bietet größtmögliche Freiheit auf engstem Raum.

Mit welchen Gedichten können Sie gar nichts anfangen?
Das Gedicht als moralische Obstkistenpredigt ist unerträglich – das Gedicht also, dessen Freiraum missbraucht wird, um eine eindeutige Aussage zu treffen, eine Pointe, etwa als Paarreim, mit der das Gedicht sich dann sozusagen erledigt hat. Ein Gedicht muss schon etwas dauerhaft Verstörendes haben, es muss eine Verrückung der Wahrnehmung erreichen.

Das Programm: www.literaturwerkstatt.org/de/poesiefestival-berlin

Johannes Böhme, Luisa Jacobs

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