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Edeltraud Thomas

© privat

Nachruf auf Edeltraud Thomas: „Hier bleiben wir nicht!“

Sie war immer davon ausgegangen, nie einen Mann abzubekommen, auf Kinder verzichten zu müssen, denn das war ein Satz, der hatte sich ihr eingegraben.

„Traudel, komm, ich helfe dir.“ Die Mutter reicht ihr eine Hand, Traudel vollführt einen kleinen Hüpfer und landet mitten auf der Tischplatte. Sie nimmt das Wollknäuel und die beiden funkelnden Nadeln und beginnt zu stricken. Nach und nach entsteht aus dem Faden ein hübsches, gleichmäßiges Gewebe. Hier, auf dieser Tischplatte, auf diesem schmalen Rechteck, fühlt sie sich vollkommen sicher.

Ein anderes Rechteck, der Deckel einer Kiste, ein paar Jahre zuvor. Von Sicherheit kann keine Rede sein; die Familie ist auf der Flucht, die Mutter und ihre drei Kinder, der Vater ist im Krieg umgekommen. Sie müssen weg aus dem Dorf in den Sudeten, weg von den Wiesen und den weiten Feldern und den Bergen. In Güterzügen geht es von einer Station zur nächsten, mit dabei ein paar Habseligkeiten in einer Kiste. Traudel setzt sich auf die Kiste, damit das wenige, das bleibt, nicht auch noch verlorengeht.

1946 erreichte die Familie Werenzhain, ein Dorf in der Oberlausitz. Sie kamen bei einem Schmied unter, der wenig erfreut war, die hungrigen Flüchtlinge aufzunehmen, der sie, wie alle hier im Dorf, abschätzig behandelte. Als Traudel bei jemandem um Äpfel bat, blaffte der sie an: „Die Äpfel sind bei uns für die Schweine.“

Die Transfusion gelang, das Kind war gerettet

Sie sehnte sich zurück nach den Düften der böhmischen Küche in der Gastwirtschaft, die ihre Mutter betrieben hatte. Nach dem roten Samt der Bänke. Doch dort, auf dem Tisch, wo ein kleines Strickwerk unter ihren Händen entstand, fand sie Trost.

Unter ihren Händen? Keine Selbstverständlichkeit. Denn Traudel konnte ihre rechte Hand zunächst kaum bewegen. Mit acht war sie an Kinderlähmung erkrankt. Alle hatten fast schon aufgegeben. Bis ein Arzt auf die entscheidende Idee kam. Eine Krankenschwester mit derselben Blutgruppe wie Traudel hatte selbst die Polio überstanden. Also legte sie sich neben das Mädchen, und ein Schlauch wurde von einer zur anderen gespannt. Die Transfusion gelang, das Kind war gerettet, doch zurück blieb ein Mal, die rechte, gekrümmte Hand. „Krüppel!“, riefen die Leute, noch ganz im alten Nazigeist. Aber Traudels Mutter kämpfte für ihr Kind. Das Stricken war eine Art Ergotherapie. Die Hand wurde beweglicher, Traudel immer geschickter, immer kunstfertiger.

Sie kam gut voran im Unterricht. Und entschloss sich mit 16, Erzieherin zu werden. Eine Erzieherin soll ein Instrument spielen, so war es vorgesehen. Traudel entschied sich für die Gitarre. Es fiel ihr naturgemäß nicht leicht mit der rechten Hand. Dazu dieser Musiklehrer, der nicht den geringsten Anstand besaß: „Man kann den Kindern doch keinen Krüppel zumuten!“ Er schikanierte sie, wo er konnte. Traudel brach die Ausbildung ab, ging ans Lehrerinstitut in Altdöbern und wurde Unterstufenlehrerin.

Der nächste Schritt: eine Schule für lernbehinderte Kinder in Cottbus. Sie mochte ihre Arbeit, war energisch. Sie hatte sich ja nicht allein um die Kinder zu kümmern, sondern ebenso um deren Eltern. Etlichen sagte das Wort „Schulpflicht“ wenig. Erschien ein Schüler zwei Tage nicht zum Unterricht, lief Traudel zu ihnen nach Hause und stauchte sie gehörig zusammen. Auch dem Direktor fiel Traudel auf, und so empfahl er sie für ein Zusatzstudium in Berlin am Institut für Sonderschulwesen.

Man kann den Kindern doch keinen Krüppel zumuten!

Der Musiklehrer

Berlin, die große Stadt. Aber kaum ein Baum, dafür überall diese struppigen Sträucher. Sie war doch ein Dorfkind, sie vermisste den Mohn am Feldrain, den Geruch nach Erde und Heu. Doch es gab ein großes Allerdings, und das hieß Kurt. Kurt war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut. Sie erkannten einander schnell. Denn auch Kurt hatte die Kinderlähmung überstanden. Bei ihm war es das Bein. Er liebte ihre dunklen Haare, ihre braunen Augen, die Grübchen in den Wangen. Sie war immer davon ausgegangen, nie einen Mann abzubekommen, auf Kinder verzichten zu müssen, denn dieser Satz hatte sich ihr eingegraben: „Krüppel kriegen keine Kinder.“

An dem ersten, schönen Allerdings haftete jedoch ein zweites, ein schmerzliches. Kurt war verheiratet und hatte Kinder. Eine schwierige Zeit. Die mit seiner Scheidung und einer neuen Ehe endete. Traudel bekam Alexander und Bettina. Unterrichtete in einer Hilfsschule in der Auguststraße. Unternahm Reisen mit ihrer kleinen Familie. Alexander erinnert sich an Jesenik in Tschechien. Ein Hotel war gebucht. Aber es lag an einer Kreuzung. Traudel wollte den Lärm dort nicht aushalten. „Hier bleiben wir nicht!“, bestimmte sie, lief los und fragte Leute auf der Straße nach einer Unterkunft. Kurt und die Kinder wussten sicher: Das kann nicht funktionieren. Doch es funktionierte. Eines fehlte ihr aber nach wie vor: ein bisschen Grün. Also kauften sie einen Garten in Altglienicke.

Traudel wurde die erste Integrationslehrerin Berlins und Gutachterin. Eins ihrer Ziele: den Menschen mit Behinderung ihre Rechte erklären und helfen, diese durchzusetzen. Es gab da diesen Jungen, der auf die Sonderschule sollte. „Nein“, bestimmte Traudel. Denn sie hatte erkannt, dass der Junge sehr wohl den sogenannten normalen Bildungsweg nehmen konnte. Jahre später erhielt sie einen Brief von ihm: Er hatte das Abitur abgelegt und studierte.

2010 starb Kurt. Der Riss ging tief. Aber sie war ja Traudel, sie machte weiter. So hatte sie es gelernt. Mit weit über 70 erstattete sie noch Rapport: „Also, ich war heute Morgen im Garten, um zu gießen. Gegossen werden muss ja. Dann habe ich Unkraut gezogen. Dann geharkt.“ Als sie vor drei Monaten erkrankte, konnte sie es nicht fassen, dass ihr die Kraft ausging. Gerade noch hatte sie die Hecke geschnitten. Jetzt fiel es ihr schwer, drei Stufen zu steigen.

Bettina holt Fotoalben hervor. Traudel als Kind mit geradem Pony und weißem Kleidchen. Traudel mit einem Hochzeitsschleier. Traudel in Amerika. Traudel mit den Enkeln. Traudel zwischen Blumen. Bettina zeigt ein weiteres Bild, tippt vorsichtig auf ihre Mutter und sagt: „Da ist sie, meine Kleine.“

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