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Was wird aus Nord Stream 2: Kanzlerin Merkel mit dem russischen Präsidenten Putin (Archivbild)

© dpa/Kay Nietfeld

Scheitert die deutsch-russische Gaspipeline?: Drei Wege zum Aus für Nord Stream 2

Nach dem Anschlag auf Nawalny wachsen die juristischen, ökonomischen und politischen Hürden für Nord Stream 2. Die EU wäre ein Ausweg für Merkel. Eine Analyse.

Auf einmal rückt in den Bereich des Möglichen, was über Jahre undenkbar erschienen war: das Aus für die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2. Erneut könnte die EU der Bundesregierung als Deckmantel dienen, um einen Schwenk zu vollziehen, ohne allzu große innenpolitische Verwerfungen zu riskieren – wie im Februar 2019.

Nord Stream stoppen, kurz vor der Fertigstellung: wie soll das gehen? Es fehlen nur noch 160 der insgesamt 2460 Kilometer Röhren. Die erforderlichen Genehmigungen für die Verlegearbeiten sind erteilt. Und die Befürworter der Pipeline wehren sich energisch gegen die Aufgabe, von den Sozialdemokraten über die beteiligten Firmen bis zum Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft.

Drei Hürden können die Fertigstellung und Inbetriebnahme noch verhindern, sagt der grüne Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer: juristische, politische, ökonomische. Alle drei Hürden sind durch den Giftanschlag auf den russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny gewachsen. Denn nun wird genauer hingeschaut. Die politische Rückendeckung für die Pipeline in der großen Koalition ist plötzlich nicht mehr sicher.

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Berlin will ein Verbot und Schadensersatz vermeiden

Würde die Bundesregierung die Fertigstellung der Pipeline nun aus politischen Gründen verbieten, könnte es teuer werden. Sie müsste den betroffenen Firmen eventuell Schadensersatz in Milliardenhöhe zahlen. Finanziell billiger würde es, wenn die Bundesregierung nichts dagegen unternimmt, dass andere Hürden die Fertigstellung oder die Inbetriebnahme verhindern. Deshalb ist die Frage so zentral, welchen Eindruck die Kanzlerin vermittelt: dass sie weiter ihre schützende Hand über das Projekt hält oder ihm die politische Unterstützung entzieht.

Erstens laufen Gerichtsverfahren gegen einzelne Genehmigungen, unter anderem eine Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen das Landesbergamt Stralsund. Zweitens hat die EU Auflagen für das Projekt erteilt, vor allem mit der Verschärfung der Richtlinie für den Gasbinnenmarkt. Die Betreiber erfüllen diese Vorgaben bisher nicht. Darüber lässt sich in der neuen Lage kaum noch hinwegsehen.

Derzeit ruhen die Verlegearbeiten. Das russische Spezialschiff "Akademik Cherskiy" im Hafen von Mukran.
Derzeit ruhen die Verlegearbeiten. Das russische Spezialschiff "Akademik Cherskiy" im Hafen von Mukran.

© Reuters/Axel Schmidt

Drittens droht US-Präsident Donald Trump mit Sanktionen gegen Firmen, die sich an Bau oder Betrieb der Pipeline beteiligen. Das erhöht die ökonomischen Kosten für das Projekt. Würden die BASF oder Eon es wirklich riskieren, dass sie als Mutterkonzerne der an Nord Stream beteiligten Firmen Einschränkungen ihres USA-Geschäfts hinnehmen müssen, wenn sie keine politische Rückendeckung aus Berlin mehr haben?

Wenn jemand die Pipeline stoppt, dann bloß nicht Trump

In einer paradoxen politischen Folgewirkung könnte Trumps Druck die Bundesregierung sogar dazu bringen, von sich nach einem anderen Weg zu suchen, damit Nord Stream 2 nicht in Betrieb geht. Denn der Eindruck, dass Deutschland sich hier den USA habe beugen müssen, ist der politisch kostspieligste. Das gilt generell: Deutschland, so würde dann der Vorwurf lauten, sei nicht in der Lage, seine Souveränität in der Entscheidung über die Energieversorgung durchzusetzen.

Und es gilt für die Kanzlerin persönlich. Sie steht in ihrem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern unter erheblichem Druck, seit US-Republikaner der Stadt Sassnitz und dem Fährhafen Mukran mit wirtschaftlicher Vernichtung gedroht haben. Da wäre es ein Ausweg, der die politischen Kosten reduziert, wenn die Regierung Merkel von sich aus erklärt, dass sie Nord Stream 2 unter Verweis auf den Giftanschlag auf Alexej Nawalny und Russlands Weigerung, die Aufklärung voranzutreiben, nicht mehr unterstützen könne.

Umweltverträglichkeit? Kommt erneut vor Gericht

Das hätte dann wohl auch Auswirkungen auf die Beurteilung der juristischen und der europapolitischen Hürden. Bisher war die Tendenz, die Einwände zu ignorieren oder glatt zu bügeln. Doch das hat sich geändert.

Das Landesbergamt Stralsund und andere Behörden seien bei den Verfahren zu Nord Stream 2 „skandalös einseitig“ vorgegangen und hätten oft die Angaben des Nord-Stream-Konsortiums übernommen, sagt Bütikofer. Er verweist auf Mängel bei der Prüfung der Umweltverträglichkeit, etwa mit Blick auf Methan-Emissionen, und bei den Annahmen, wie viel Gas Deutschland und Europa überhaupt aus Russland künftig benötigen.

Die Sicherheitsrisiken durch Munition aus dem zweiten Weltkrieg im Pipelinebereich seien nicht geprüft worden. Das werde nun vor Gericht zur Sprache kommen.

Die „Unbundling“-Auflage der EU nimmt Gazprom bisher nicht ernst

Politisch gewichtiger sind die europapolitischen Hürden. Die drei wichtigsten EU-Institutionen – die Kommission, das Parlament und der Europäische Rat (das Gremium der nationalen Regierungen) – waren von Anfang an gegen die Pipeline. Über Jahre hatte Deutschland sich bemüht, europäische Auflagen zu verzögern, damit Nord Stream 2 in Betrieb geht, ehe sie in Kraft treten. Im Zentrum dieses Tauziehens stand die EU-Richtlinie für den gemeinsamen Gasmarkt.

Doch die Gegner drängten auf eine Entscheidung. Im Februar 2019 entging Deutschland nur knapp der Blamage, von allen drei EU Institutionen überstimmt zu werden. Auch Frankreich hatte die Seite gewechselt. Deutschland verfügte nicht einmal mehr über eine Sperrminorität, um unliebsame Entscheidungen zu Nord Stream zu verhindern. Spätestens von da an musste jedem klar sein: Deutschland treibt Nord Stream nicht im Konsens mit seinen EU-Partnern voran, sondern gegen deren Willen.

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Die EU erlaubte Merkel jedoch einen gesichtswahrenden Kompromiss: Die europäischen Regeln werden auf Nord Stream 2 angewandt. Die Gaslieferungen müssen organisatorisch getrennt sein vom Betrieb der Pipeline. Dieses „Unbundling“ bedeutet praktisch, dass der staatsnahe russische Konzern Gazprom nicht beides zugleich sein kann. Deutschland wurde zugestanden, die Einhaltung der Auflage zu überprüfen, freilich mit der Maßgabe, dass die EU sich die letzte Entscheidung vorbehält.

Bis heute haben jedoch die Firmen, die an Nord Stream beteiligt sind, diese Auflage nicht glaubwürdig umgesetzt. Das Konsortium tut weiter so, als sei das alles nur Formsache, und am Ende werde die Bundesregierung schon dafür sorgen, dass die Gründung einer weiteren Tochterfirma von Gazprom genüge, um die Auflage zu erfüllen.

Eine „europäische Lösung“ könnte erneut der Ausweg sein

In dieser Lage bietet sich die EU erneut als Ausweg an, um der Kanzlerin einen gesichtswahrenden Schwenk zu ermöglichen. Eines wollen alle Kräfte in Deutschland auf jeden Fall vermeiden: Dass der Eindruck entsteht, Trump habe Nord Stream verhindert, gegen den Willen der Bundesregierung. Ob Gerichtsverfahren die Pipeline noch stoppen, ist offen.

Wenn die Kanzlerin jedoch sagt, Europa brauche eine gemeinsame Energiepolitik und eine gemeinsame Antwort auf Russlands Verhalten – und Deutschland stehe dieser gemeinsamen europäischen Politik nicht im Wege, sondern sei sogar bereit, ein deutsch-russisches Projekt dafür preiszugeben, kann sie wohl auf breite Zustimmung rechnen.

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