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Eine Gruppe Touristen vor der Skyline von Pudong in Shanghai.

© AFP/Johannes Eisele

Chinas Metropole: Shanghai – da geht was

Spanier fliehen vor der Krise hierher, eine Russin wird über Nacht Model und ein Deutscher gefragter DJ: Junge Leute aus aller Welt suchen in Chinas Metropole ihr Glück. Auch unsere Autorin.

Mich selbst befiel das Syndrom kurz nach meinem Abitur. Geboren wurde ich in Südchina, mit vier zog ich mit meinen Eltern nach Deutschland. Im beschaulichen Freiburg bin ich zur Schule gegangen und vergaß über Jahre meine Heimat. China hatte ich als rückständig und dreckig in Erinnerung. Ich wollte nichts mit diesem Land zu tun haben. Die Faszination packte mich, als ich 2006 für einige Wochen zurückkehrte, um meine Großeltern zu besuchen. Ich landete in Shanghai. Und erkannte nichts aus meiner Kindheit wieder: Der neue Flughafen Pudong kam mir vor wie ein überdimensioniertes Raumschiff. Unsere Bekannten waren aus hässlichen Wohnblöcken in 400-Quadratmeter-Apartments gezogen. Die Stadt war eine einzige Baustelle: Überall war Großes im Entstehen. In den Augen der Menschen konnte ich das Glitzern der Skyline sehen.

In der Regel tritt das Shanghai-Syndrom bei Menschen auf, die noch nie in China gewesen sind. Man hat von Ai Weiwei und Milchpulverskandalen gelesen, sich später im Flieger gefragt, ob man einen Mundschutz hätte einpacken sollen und wie man die nächsten zwei Wochen ohne Facebook übersteht. Nach zwölf Stunden Kabinenluft ist der Körper geschwächt, der Kopf gejetlaggt. Dann fliegen draußen vor dem Taxifenster die Leuchtfassaden vorbei; der Fahrer jagt mit 80 über die sechsspurige Stadtautobahn, unter einem wehende Baumwipfel; in der Ferne funkeln die in Wolken gehüllten Spitzen des Shanghai Towers und des World Financial Centers. Auf einmal rast der Puls. Der Bauch kribbelt. Der Kopf ist hellwach. Das Gefühl: larger than life. Die Symptome nehmen mit jedem Drink, den man in den folgenden Tagen an irgendeiner Hotelbar im 65. oder 87. Stock bestellt, manifestere Gestalt an. Die Sinne: auf 180. Der Rest der Welt: irgendwie sehr, sehr klein. Man glaubt sich am Nabel der Welt.

2011 packte ich meine Sachen und zog nach China. Ich wollte den Boom in meinem Heimatland miterleben, verstehen, wohin sich das Land entwickelte, in dem meine Verwandten lebten. In meinen ersten Monaten lernte ich nur Ausländer kennen. In den Neunzigern und den Nullerjahren waren vor allem westliche Manager aus der Auto- und der Maschinenbaubranche zugewandert, ausgestattet mit üppigen Expat-Paketen inklusive Luxusapartment, Fahrer, internationaler Schule für die Kinder und diverser Auslandsboni. Dann waren Lebenskünstler dem Ruf der Stadt gefolgt. Abends ließen sich alle durch die Bars in der ehemaligen Französischen Konzession treiben.

Die Zahl der Ausländer ist auf 175.000 gestiegen

Ich begegnete Ryan aus Virginia, der jahrelang nicht wusste, wohin mit sich, bis er 2009 seinen Freund Jacob in Shanghai besuchte und prompt beschloss, hier zu bleiben. Im ersten Jahr schlug er sich wie viele andere Neuankömmlinge als Englischlehrer durch, heute ist Ryan „Urban Garden Designer“, er wird von Fünf-Sterne-Hotels und Modelabels gebucht. Ich traf Naomi aus Wladiwostok, die in Russland Jura studierte, eines Tages buchte sie einen Flug nach Shanghai, weil sie gehört hatte, dass die Stadt der neue Ort der unbegrenzten Möglichkeiten sei. Hier startete sie als Model durch.

Andere typische Shanghaier Expat-Biografien: Jean-Baptiste aus Paris, der von einer Versicherungsfirma nach China geschickt wurde, bis er kündigte und sich selbstständig machte als Zauberer. Heute führt er reichen Hochzeitsgesellschaften Huttricks vor und wird von seinen chinesischen Kunden gefeiert wie ein König. Oder Stefan aus einer Kleinstadt im Schwarzwald. Kam 2005 als Medienkaufmann nach Shanghai, heuerte in den Bars an, wurde schnell zum gefragtesten DJ der Stadt. Er beschrieb mir den Reiz von Shanghai einmal so: „Du kannst alles gleichzeitig sein. Du warst zu Hause Angestellter und willst dich als schwuler Jazzmusiker neu erfinden? Kein Problem. Du willst aus einer Sushi-Bar morgen ein Pizza-Restaurant machen? Klar, warum nicht. Du willst chinesischen Millionären Havanna-Zigarren verkaufen und selbst Millionär werden? Na los!“ Er lachte. „Kennst du das, wenn Katzen einem Laserpunkt hinterherrennen? Genauso angefixt reagieren die Leute auf Shanghai.“

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Ausländer auf 175 000 gestiegen, insgesamt leben 14 Millionen Menschen in Shanghai. Während woanders in China die Expats wieder ihre Koffer packen, werden es hier immer mehr.

Shanghai, dieser Spielplatz für Glücksritter aus aller Welt, war in den 1920ern schon einmal Sehnsuchtsort: Geschäftemacher und Abenteurer strömten in die Hafenmetropole, stolperten in Opiumhöhlen, Spielhöllen und Bordelle, die an jeder Ecke warteten. Rausch und Exzess verliehen der Stadt die Beinamen „Paris des Ostens“ und „Hure am Huangpu“. Nach dem Zweiten Weltkrieg räumten die Kommunisten auf. Über Jahrzehnte verfiel die Stadt in Bedeutungslosigkeit. Erst in den 90er Jahren öffnete Shanghai sich wieder der Welt: Deng Xiaoping erhob die Stadt zur Sonderwirtschaftszone, schnell stieg sie zum ökonomischen Kraftzentrum des Landes auf. Dort wo noch vor 25 Jahren Kühe grasten, schossen die ikonischen Wolkenkratzer des Finanzdistrikts empor. Internationale Großinvestoren kamen, und mit ihnen kehrten die „Shanghailander“ zurück – die Goldgräber aus dem Westen.

In Shanghai vergisst man gerne, in China zu sein

Eine Gruppe Touristen vor der Skyline von Pudong in Shanghai.
Eine Gruppe Touristen vor der Skyline von Pudong in Shanghai.

© AFP/Johannes Eisele

Die Stadt macht es einem leicht, einfach hängenzubleiben: Sie bietet alle Annehmlichkeiten einer westlichen Großstadt, die Luft ist gesünder als in Peking, die Mieten sind nach wie vor günstiger als in New York, London oder Paris. Vor allem lockt die Aussicht auf schnellen Erfolg. Das Internet ist zensiert, freie Meinungsäußerung verboten, doch viele Expats, denen ich in Shanghai begegnet bin, fühlen sich hier paradoxerweise freier als anderswo: weit weg von Familie, Verpflichtungen und sozialer Kontrolle durch ein festes Umfeld. In Shanghai ist alles im Fluss. Nichts ist etabliert, alles scheint möglich.

Die Finanzkrise trieb eine weitere Welle von Ausländern in die Stadt: junge Südeuropäer und US-Amerikaner, die vor dem angespannten Arbeitsmarkt in der Heimat flüchten. Als ich 2012 eine Wohnung suchte, waren die Preise für Ein-Zimmer-Apartments in der Innenstadt binnen weniger Monate um 30 Prozent in die Höhe gesprungen – „so viele Laowais auf einmal!“, also Langnasen, rief die Maklerin erstaunt. Eine befreundete Architektin erzählt von Dutzenden Krisenspaniern, die sich Woche für Woche um Praktika in ihrem Büro bewerben. Nicht viel anders als in Berlin, mit dem Unterschied allerdings, dass es in Shanghai tatsächlich Jobs gibt.

Sie schwärmen vom "New York Asiens"

Es ist verrückt: Meine chinesischen Freunde sehnen sich nach sauberen Lebensmitteln und sozialer Sicherheit, träumen davon, in den Westen auszuwandern. Für junge Expats ist Shanghai the place to be, um Karriere zu machen, ein Übungsplatz, um den Lebenslauf zu optimieren, Stahlbad für die globalisierte Businesswelt. Jedes Jahr Anfang Januar, wenn sie aus dem Heimaturlaub kommen, hört man dieselben Klagen: Dass die Landsleute zu Hause sich nicht aus ihrer Komfortzone wagen. Darüber, dass im Westen „nichts passiert“. Von Shanghai schwärmen sie als das „New York Asiens“. In den Innenstadtvierteln Jing’an und in der Französischen Konzession lebt es sich inzwischen tatsächlich wie in Manhattan oder Brooklyn: dieselben Avocado-Sandwich-Delis, wo Office-Ladys ihre Mittagspausen verbringen, derselbe kosmopolitische Englisch-Mischmasch in denselben Bars mit demselben rauem Industrie-Schick-Dekor. Auf Partys und Vernissagen trifft man Fotografen aus Reykjavik, Musiker aus Sao Paulo, Stylisten aus London und Künstler aus San Francisco. Nachts tauschen alle Visitenkarten. Jeden Moment kann sich ein neuer Auftrag, ein neues Projekt, ein neuer Job ergeben. Das große Ding. Jeder gibt Vollgas.

In Shanghai vergisst man gerne, in China zu sein. Ich kenne „Laowais“, die seit zehn Jahren mit drei Wörtern Chinesisch auskommen. Andere Zugezogene in meinem Freundeskreis sind „Bananen“. So nennt man hier Menschen wie mich: außen gelb, innen weiß – verwestlichte Kinder chinesischer Auswanderer. Jeremy zum Beispiel, Eltern aus Südchina, aufgewachsen in Illinois, ist ein „ABC“: ein American-born Chinese. Tian stammt aus der Westprovinz Sichuan und ging in Rom zur Schule; Andrew, aus Nordchina, wuchs in Melbourne auf; Yimeng verbrachte ihre Kindheit in Mainz und hat wie ich einen deutschen Pass.

Wir Bananen haben gemeinsam, dass Shanghai eine Art multiple Identitätsstörung in uns hervorruft. Weder sind wir Ausländer, noch Chinesen. „Was antwortest du, wenn du gefragt wirst, woher du kommst?“, fragte ich vor Kurzem Joyce. Ihre Eltern stammen aus Hongkong, sie selbst wuchs in Toronto auf. „In Kanada sage ich, ich bin Chinesin. In Shanghai sage ich, ich bin aus Hongkong. Und wenn mich Chinesen fragen, warum mein Mandarin so schlecht ist, sage ich, ich bin Kanadierin.“ Mir selbst geht es ähnlich. Ausgerechnet in Shanghai, diesem Hybrid aus Ost und West, fühle ich mich irgendwie zuhause.

Dabei ist Shanghai kein Ort, an dem man Wurzeln schlägt. Eher wie der Transitbereich eines Flughafens: Die Leute kommen und gehen mit dem nächsten Jobangebot. Freundschaften und Beziehungen sind vergänglich; der Vermieter kündigt die Wohnung, weil das Haus abgerissen werden soll; Lieblingsplätze verschwinden, kaum dass man sie entdeckt hat; Abschiede werden öfter gefeiert als Geburtstage. Das Hoch der Anfangszeit weicht dem Gefühl der Verlorenheit. Der Ahnung, am Mittelpunkt der Welt zu sein, und doch nirgendwo.

Im weiteren Verlauf des Shanghai-Syndroms hallt jedem Erkrankten der unvermeidliche Satz anderer Leidensgenossen in den Ohren: „I’m leaving town.“ Manche sagen ihn bereits nach einem Jahr, andere brauchen zehn. Gehen, ja, aber wohin? Wenige ziehen nach Hause, viele weiter nach Istanbul/Buenos Aires/Bangkok. Ich stelle mir die Frage auch immer wieder. Alle paar Monate sehne ich mich nach Beständigkeit und Ruhe. Dann buche ich einen Flug. Wenn ich in München lande, fühle ich mich ein bisschen wie auf Entzug. Statt Aufbruch, Umbruch und Wahnsinn ist da bloß wohlgeordnete Gemütlichkeit. Ich kehre zurück nach Shanghai, steige ins Taxi und tauche ein in einen Wald aus Lichtern. Alles ist wieder neu. Und ich bleibe.

Unsere Autorin Xifan Yang, Jahrgang 1988, berichtet von ihrer alten, neuen Heimat auch in einem Buch: „Als die Karpfen fliegen lernten: China am Beispiel meiner Familie“ (Hanser Berlin).

Xifan Yang

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