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Großer Lacher. Bei den Elchen im Moose Garden hat man das Gefühl, sie grinsen einen an.

© Anne Armbrecht

Safari in Schweden: Ich glaub’, mich knutscht ein Elch

Auf Elch-Safari in Schweden kommen Fotografen den Tieren ganz nah – und sind schockverliebt trotz Sabbergefahr.

Vorn an der Straße steht das gelbrote Warnschild. Hinter der Nadelbaumgruppe trotten sie tatsächlich heran. Zwei, drei, vier – fünf Elche. „Der letzte gehört aber nicht zu uns“, sagt Judith Waller, Expertin im Elchpark Moose Garden. Ein rotbrauner Muskelberg ist der Fremde, Schulterhöhe 2,30 Meter, von Schnauze bis Stummelschwanz misst er drei Meter. Das Tier hat den Zaun umgerissen. Im Schnee sieht man die Sprung- und Schleifspuren, wo er hinüber gesetzt hat in den Park, etwa fünf Autostunden nördlich von Stockholm.

Elche gehören zum Image von Schweden wie Astrid Lindgren, Ikea und Zimtschnecken. Doch längst nicht jeder Reisende hat das Glück, die Tiere in freier Wildbahn zu sehen. Eigentlich sind sie menschenscheu. Zum Glück von Naturfreunden garantieren Elchsafaris und Elchparks, etwa ein Dutzend im Land, die Sichtung der Spezies. Im Moose Garden kommen Besucher den Tieren aus der Familie der Hirsche nahe und können sie sogar streicheln.

Die Anlage nahe der Stadt Östersund umfasst eine Fläche von 15 Hektar – etwa halb so groß wie der Berliner Zoo. Das unebene Gelände mit ein paar Bauminseln und zwei Bachläufen begrenzt ein grobmaschiges Netz von Holzstäben. Nichts, was einen Elch aufhalten könnte. Der Garden ist mehr Nationalpark als Gehege. Die Tiere kommen, wann sie wollen. Sie sind nicht zahm, aber an Menschen gewöhnt. Jetzt traben vier Elche an, weil sie die Schubkarre voller Kartoffeln riechen. Der fünfte, der Neuankömmling, fremdelt und bleibt zurück bei den Bäumen.

Für Fellfühlung darf man frieren

Judith Waller ist vor einigen Jahren nach Östersund gekommen, um Ökotechnologie zu studieren. Die 38-Jährige ist ganz in Schwarz gekleidet, trägt Arbeitshandschuhe und Pudelmütze. Sie erzählt, dass sie seit zwei Jahren im Moose Garden arbeitet. Im Sommer bietet der Park dreimal täglich eine geführte Tour über das Gelände an, im Winter nach Absprache. 200 Kronen, etwa 18 Euro, kostet der Eintritt.

Waller zieht die Karre Kartoffeln hinter sich her. Elche lieben die saftigen, gelben Knollen. Zum Fressen finden die Tiere um die Jahreszeit sonst nur knorriges Gestrüpp und Gräser unter der dichten Schneedecke. Im Sommer äsen sie Blätter, Zweige und Baumrinde. Abwechslung kann da nicht schaden, notfalls auch aus der Hand der eigentümlichen Zweibeiner, die ein paar Köpfe kleiner sind.

Das laute Schmatzen ist für einige Zeit der einzige Laut in der Stille des Winters. Es sind minus 15 Grad. Die Kälte kriecht in die Kleider, wenn man nicht sorgsam geschichtet hat. Glückshormone, die beim Füttern der Tiere ausgeschüttet werden, scheinen auch beim Aufwärmen zu helfen. Einige Besucher trauen sich, die Handschuhe auszuziehen. Für Fellfühlung darf man frieren. Auch wenn das Streicheln gar nicht so angenehm ist. Elchfell im Winter fasst sich an wie alter Besen. Es ist struppig, borstig, trocken. Nur die Ohren sind flauschig.

Die meisten Unfälle passieren im Herbst

„Lasst euch nicht umrennen“, warnt Judith Waller. Rennen? Die Elche trotten vorüber, einer bleibt stehen, schaut nochmal Richtung Zaun und guckt nicht, wo er sich hindreht. Das meinte Waller wohl: Die Tiere rempeln einfach um, was sie behindert. Bis zu 800 Kilogramm schubsen einen in solchen Fällen weg. Nicht umsonst gibt es in der Automobilindustrie den Begriff des Elchtests. „Der Elch läuft nur vorwärts“, erklärt Waller, „wenn er kommt und du stehst im Weg, lass dich zur Seite fallen.“

Diesen Ratschlag können Autofahrer schlecht befolgen, noch schlechter, wenn die Tiere mit einer Spitzengeschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde heranrauschen. Daher kommt es in Schweden jährlich zu 4000 Verkehrsunfällen mit Elchen, sie können für Mensch wie Tier tödlich enden. Am gefährlichsten ist es im Herbst. Die Paarhufer lieben Äpfel. Doch das Fallobst ist oft schon gegoren. Die Tiere stolpern dann von den Früchten beschwipst durch die Landschaft. Mag man sich nicht vorstellen, wenn so ein Koloss betrunken auf die Straße oder durch den Garten torkelt. Um die Zahl der Zusammenstöße einzudämmen, säumen nun hohe Zäune die Schnellstraßen. Gar nicht spaßig finden die Schweden es, wenn Touristen die Warnschilder als Erinnerung mit nach Hause nehmen.

Geschätzte 400 000 Elche leben heute in Schweden, sagt Judith Waller. Ende des 18. Jahrhunderts war die Art fast ausgestorben. Heute ist Alces alces, so der wissenschaftliche Name, wieder weit verbreitet. Nur im Süden des Landes sieht man ihn weniger. Der Klimawandel vertreibt den Elch. Er fängt bereits bei 15 Grad an zu schwitzen.

Im Moose Garden gibt es den wohl teuersten Feta weltweit

Die Tiere sind die Gelassenheit selbst.
Die Tiere sind die Gelassenheit selbst.

© Anne Armbrecht

Fressfeinde wie Wölfe und Bären gibt es kaum noch. Deshalb dürfen die großen Hirsche wieder gejagt werden. Der Jagdbeginn im September ist jedes Jahr ein großer Festtag. Etwa 300 000 Jäger machen sich dann auf in die Wälder. Nicht nur wegen der Trophäen, auch aus Umweltschutzgründen. Die Huftiere sind zu gefräßig und dezimieren den Bestand an jungen Bäumen. Das magere, zarte Fleisch des geschossenen Wilds findet man in Gaststätten auf dem Teller. Als Schinken oder Braten gilt es in Skandinavien als Delikatesse.

Die Tourgäste im Moose Garden mögen sich so ein Mahl gerade nicht vorstellen. Die Franzosen und Deutschen haben sich schockverliebt in die Vierbeiner mit ihren übergroßen Schnauzen und den Nüstern, die ein bisschen so aussehen, als würden die Tiere lächeln. Seit 1997 finden die Waisen unter ihnen Zuflucht im Park. Begonnen hat es mit Ludde und Ronja, deren Mütter bei Autounfällen ums Leben kamen. Heute heißen die Elche Hero – nach einem Gewinnerlied beim Eurovision Songcontest – oder Potter. Nicht Harry stand hier Namenspate, sondern der Fußballtrainer Graham Potter, der Östersund 2017 überraschend zum schwedischen Pokal geführt hatte.

Die Gründer des Parks lassen sich für ihre Gäste einiges einfallen. Beispielsweise stellen sie Papier aus dem Elchmist her, der wie ein loses Brikettstück aussieht, überall herumliegt und von Waller scherzhaft schwedische Schokolade genannt wird. Sie behauptet, im Moose Garden werde auch einer der teuersten Feta weltweit produziert, bis zu 500 Euro kostet das Kilogramm aus der Milch. „Wir sind einer von wenigen Anbietern, die Elche überhaupt melken können.“ Das mache den Käse zu einer Rarität. „Das Jungtier hat natürlich Priorität, wir kriegen nur den Überschuss.“ Oft gibt es diese Gelegenheit jedoch nicht. Nachwuchs gab es zuletzt vor zwei Jahren.

Sie lassen sich zähmen, aber nicht domestizieren

Damals kam Potter auf die Welt, nach der Geburt wurde er von seiner Mutter getrennt. Sie hätte ihn sonst verstoßen. Das Gelände ist zwar groß, doch es wäre schwierig geworden, sich aus dem Weg zu gehen. Eigentlich sind Elche Einzelgänger, dass die vier Tiere hier sich verstehen, sei schon ungewöhnlich, sagt Waller. Also habe man den Kleinen in der Scheune von Hand aufgezogen. Die Mutter vergaß ihn derweil. „Nach ein paar Wochen konnten wir ihn zurück ins Gelände schicken. Die anderen dachten: Schau an, ein Neuer!“ Judith lacht. „Elche sind nicht gerade die schlauesten Tiere.“

Schnell ein Foto mit Hero machen. Machen lassen. Und noch eins, diesmal über die Schnauze streicheln. Dann dreht er sich weg, hat wohl keine Lust mehr.

Elche können sich an Menschen gewöhnen, vollends domestizieren, wie Pferde oder Rentiere, lassen sie sich jedoch auch über Generationen hinweg nicht. Sie haben ihren eigenen Kopf. Nebenan schiebt sich eine Schnauze voller Schneekristalle nahe an die Kamera heran. Sie riecht wohl die Kartoffelstärke an den Händen. Dunkle Knopfaugen kommen dicht an die Linse, die Löffelohren sind aufgestellt. Das Tier brummt wohlig und streckt den großen Kopf in die Höhe, als ihm der Hals gestreichelt wird. Mit der Kartoffel in der Hand lässt sich sogar ein letztes Selfie erpressen – man muss nur schnell genug sein, ehe sich die große Oberlippe, genannt Muffel, über die Knolle stülpt. Oder die Haare auf dem Kopf zerwuschelt und komplett vollsabbert.

Eine Stunde dauert das Spektakel. Die Tiere sind die Gelassenheit selbst. Es mag an ihrer Größe liegen. Von den kleinen Menschen haben die Elche nichts zu befürchten, selbst ohne Geweih nicht, wie jetzt im Winter. Sie sind die größten Hirsche der Welt und sogenannte Stirnwaffenträger. Das Geweih eines Männchens, die Schaufeln, wiegt schon mal 20 Kilogramm. Jedes Jahr wächst es ein wenig mehr, nachdem die Bullen es im Frühjahr abgestoßen haben. Das Geweih der europäischen Unterart erreicht bis zu 1,30 Meter Spannweite, die kanadische bringt es auf bis zu zwei Meter. Bei Hero und Potter sind es momentan zwei weiße Stummel an der Stirn. Im Sommer werden die beiden Männchen um die Vorherrschaft in der Gruppe kämpfen. „Der Stärkste kriegt alle Mädchen“, sagt Judith Waller. Die Herzen der Gäste haben beide bereits erobert.

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