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Ob Tagebau oder Akw, Angst kann viele Ursachen haben. Unser Bild zeigt Kühltürme im Tagebau Jänschwalde.

© picture-alliance / dpa

Ein Neurologe über die deutsche Angst: Die Sache mit der Angst

Sie haben die gleiche neuronale Grundlage: Angst und Aggression. Populisten wie die AfD nutzen das aus. Es gibt auch Rezepte dagegen. Ein Essay.

In diesen Tagen beherbergt das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig eine Ausstellung, die sogar dem amerikanischen Außenminister einen Besuch wert war. Der Titel der Schau ist in eine Frage gegossen: „Angst – Eine deutsche Gefühlslage?“ Mit beeindruckendem Bild- und Textmaterial wird sichtbar, mit welchen Ängsten es die deutsche Bevölkerung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun hatte, im Osten wie im Westen. Ängste – wie während der Kubakrise vor der Gefahr eines Atomkriegs – können gute Gründe haben. Doch sie können auch zu einer problematischen Gefühlslage werden.

Mehr als 50 Prozent der Deutschen haben chronische Ängste

Obwohl es dem Land heute so gut wie noch nie geht, tragen mehr als 50 Prozent der Deutschen chronische Ängste mit sich herum. Da Angst und Aggression gemeinsame neuronale Systeme zur Grundlage haben, kann Angst jederzeit in Aggression umschlagen, in Hasssprache, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Die Leipziger Ausstellung kann deshalb ein Anlass sein, der Angst in Deutschland auf den Grund zu gehen und ihr etwas entgegenzusetzen.

Angst ist ein von der Evolution dem Menschen mitgegebenes Gefahrenerkennungssystem. Unsere Spezies lebt seit hunderttausenden von Jahren in sozialen Verbänden. Solange der Mensch sich einer sozialen Gemeinschaft zugehörig fühlen kann und durch die in ihr vorhandenen Fähigkeiten zur Verteidigung und gegenseitigen Hilfeleistung geschützt ist, erlebt er stark belastende Einzelereignisse, einen Unfall oder eine Erkrankung, als weniger bedrohlich.

Was dem Menschen aber in höchstem Maße Angst macht, sind der Wegfall des sozialen Zusammenhalts, soziale Ausgrenzung und Einsamkeit. Eine Bedrohung ihrer Zugehörigkeit erleben Menschen durch den Verlust wichtiger Bindungen, durch das Zerbrechen einer Partnerschaft oder einer Familie, ebenso aber durch den tatsächlichen oder drohenden Verlust des Arbeitsplatzes oder von bezahlbarem Wohnraum. Alle Untersuchungen zeigen, dass die Spitzenplätze von solchen Ängsten eingenommen werden, die direkt oder indirekt den Bestand und die Gefährdung des Gemeinwesens betreffen oder mit der Angst vor persönlicher Einsamkeit zu tun haben.

Wie findet die Angst den Weg in den gesellschaftlichen und politischen Raum und wie breitet sie sich dort aus? Ein überaus wichtiger Aspekt der Angst ist ihre Infektiosität. Ängste können sich im gesellschaftlichen und politischen Raum erstaunlich schnell ausbreiten und ansteckend sein wie eine Viruserkrankung. Als es in Kliniken noch Säuglingsstationen gab, konnte man Momente beobachten, in denen alle Säuglinge still und zufrieden in ihren Bettchen lagen. Plötzlich fühlt sich ein Säugling aus irgendeinem Grund unwohl, bekommt Angst und beginnt zu schreien. Innerhalb weniger Sekunden schreit die gesamte Säuglingsstation. Der eine Winzling hat alle anderen mit seiner Angst angesteckt.

Das Plakat der aktuellen Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig.
Das Plakat der aktuellen Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig.

© Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

Erwachsene verhalten sich im Prinzip nicht anders. Spezielle Nervenzellen des Gehirns, die so genannten Spiegelnervenzellen, machen es möglich, dass Menschen einander mit Stimmungen und Gefühlen anstecken, sowohl mit guten als auch mit negativen.

Angst zu verbreiten, sichert Aufmerksamkeit. Nichts bindet die Aufmerksamkeit des Menschen stärker als Hinweise auf Gefahr, sei sie tatsächlich vorhanden oder nur behauptet. Der Mensch liebt keine Katastrophen, aber unsere Aufmerksamkeit liebt sie über alles. Wem das Verbreiten von Angst nützt, der verbreitet Angst: bestimmte Medien, ebenso unzählige Akteure in sozialen Netzwerken, in denen man umso mehr Aufmerksamkeit erhält, je krasser die Ansichten und je schlechter die Nachrichten sind, mit Angst und Hass als Resultat. Auch in der Politik ist das Schüren von Ängsten seit Langem ein Erfolgsrezept. Politiker, die sich mit dem Verbreiten von Angst und Hass um Wählerstimmen bemühen, betreiben das, was man Populismus nennt.

Oft ist erst die Angstbereitschaft da, dann die Suche nach Angstursachen

Kann die Angst, wie der Titel der Ausstellung insinuiert, zu einer Gefühlslage werden? Sie kann. Die traditionelle Annahme, dass jede Angst konkrete Auslöser hat, ist nicht immer zutreffend. Wissenschaftliche Beobachtungen zeigen, dass es auch umgekehrt sein kann: Viele Menschen haben eine vorbestehende, stark ausgeprägte Angstbereitschaft. Diese sucht sich rückwirkend ihre Gründe, die als Ursache für Angst ausgegeben werden, es aber tatsächlich nicht sind. Zuerst ist da also eine diffuse Angst, für die dann Gründe gefunden werden müssen, um die Angst vermeintlich erklären zu können. Der Vorgang entspringt nicht böser Absicht: Menschen, die Angst haben, ohne zu wissen warum, suchen verständlicherweise nach Gründen für ihre Angst. Wer sucht, der findet.

Erhöhte Angstbereitschaft gibt es nicht nur bei Einzelnen, sondern auch bei Gruppen oder ganzen Völkern. Verursacht wird eine solche überdurchschnittlich hohe Angstbereitschaft durch frühere traumatische Erfahrungen. Als Trauma bezeichnet die Wissenschaft eine schwere aversive Erfahrung, der sich weder durch Flucht noch durch Angriff entkommen lässt. Wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass eine posttraumatisch erhöhte Angstbereitschaft sogar vererbt werden kann.

Die AfD-Methode: Angst schlägt in Aggression um, wenn sie geschürt wird

Die von unseren Vorfahren erlebten und erlittenen beiden Weltkriege und vieles, was die Deutschen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg belastet hat, hat in der Neurobiologie der hier lebenden Menschen Spuren hinterlassen. Potentielle Traumata nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht nur die Angst vor einem Atomkrieg, sondern auch manches Andere, etwa der Schrecken nach dem Akw-Unfall von Tschernobyl. Für viele wurde auch der industrielle und zivilgesellschaftliche Kollaps in der Nachwendezeit im Osten unseres Landes zu einer Art sozialem Trauma, das wir heute aber nicht durch eine Opferhaltung ständig re-inszenieren sollten, sondern aus dem wir herausfinden müssen.

Wir müssen aus der Angst als einer deutschen Gefühlslage herausfinden, gerade weil davon auszugehen ist, dass wir Deutschen zu den Völkern gehören, die aufgrund ihrer Geschichte eine besonders stark ausgeprägte Angstbereitschaft entwickelt haben. Bei einem Teil der Menschen schlägt sie in Aggression um, zumal wenn sie von Angstmachern zusätzlich geschürt wird. Diesen Umschlag tatkräftig zu fördern, gehört zu den politischen Rezepten rechtsgerichteter Parteien wie der AfD.

Bildung kann Menschen gegen Angst immunisieren

Dem muss und kann man entgegentreten, kann der Angst etwas entgegensetzen. Die Ergebnisse der letzten Wahlen zeigen: Bildung kann Menschen gegen Angst und gegen die daraus hervorgehenden aggressiven Stimmungen immunisieren. Wer Rafik Schamis Romane gelesen hat, dem sind Geflüchtete aus Syrien weniger fremd. Wer einem Konzert mit Gidon Kremer beigewohnt oder einen Roman von Amos Oz gelesen hat, wird wohl kaum antisemitischen Parolen hinterherlaufen.

Eine weitere Rezeptur gegen die Angst kann an ihrer Infektiosität ansetzen. Wir sollten zwischen uns und der Panikmache aus Medien, sozialen Netzwerken und Politikermund einen Zwischenraum schalten, der vor Ansteckung bewahrt, damit wie nicht wie die erwähnten Säuglinge auf der Säuglingsstation reagieren. Gerade angesichts alarmierender Wahlergebnisse dürfen Besonnenheit und Vernunft jetzt nicht verloren gehen. Ein weiteres Gegengift gegen die Angst kann eine zuversichtliche Grundhaltung sein. Zuversichtliches Denken ist das, was früher den Namen Hoffnung trug. Das bedeutet nicht, Probleme zu bagatellisieren. Es heißt vielmehr, sich ihnen zu stellen und statt ihres Angstpotentials ihre Lösbarkeit ins Auge zu fassen.
Die Ausstellung „Angst – Eine deutsche Gefühlslage?“ läuft noch bis 10. Mai im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Der hier abgedruckte Beitrag basiert auf einer Rede, die der Autor anlässlich der Eröffnung hielt. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt, Psychotherapeut und Autor von Sachbüchern. Zuletzt erschien von ihm „Wie wir werden, wer wir sind“ (Blessing, 2019).

Joachim Bauer

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