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Das Licht lockt. Ian Chengs Installation „Life after BOB“ in der Halle am Berghain.

© Andrea Rossetti

Halle am Berghain: Kommt und kostet von der digitalen Zukunft

Was passiert, wenn wir alle einen Chip im Hirn haben? Der amerikanische Künstler Ian Cheng wagt das Gedankenexperiment. Seine Ausstellung führt ins Jahr 2074.

Eigentlich praktisch: Im Jahr 2074 arbeitet der Neurowissenschaftler Dr. James Moonweed Wong an einer künstlichen Intelligenz, die den Alltag erleichtern soll: „Bag of Beliefs“, kurz BOB, steuert durchs Leben, hilft kluge Entscheidungen zu treffen, befreit von alltäglichen Sorgen. Das Programm fungiert als eine Art Co-Pilot fürs Leben und wird direkt ins menschliche Hirn eingepflanzt. Dieser Zukunftsvision geht der US-amerikanische Künstler Ian Cheng in seiner Anime-Serie „Life after BOB“ nach. Die erste Episode in Spielfilmlänge, die zuvor unter anderen im hippen Kulturhaus „The Shed“ in New York lief, ist jetzt in der Halle am Berghain in ein ganzes „Life After BOB“-Universum eingebettet. Der Künstler hat es in Zusammenarbeit mit der Berliner Plattform für Kunst, Wissenschaft und neue Technologien Light Art Space (LAS) entwickelt.

„Bag of Beliefs“ (auf deutsch etwa „Sack voller Glaubenssätze“) setzt an einer Schwachstelle des Menschen an. Viele kämpfen im Erwachsenenalter mit negativen Glaubenssätzen, die ihnen als Kind von Eltern, Schule, Umfeld eingepflanzt wurden. Es ist schwer, diese Programme wieder loszuwerden. Die Ratgeberliteratur ist voll mit Tipps dazu. Was wäre also, wenn eine künstliche Intelligenz wie BOB uns dabei unterstützen würde, ungünstige Glaubenssätze erst gar nicht aufkommen zu lassen. Wenn es nicht die Eltern wären, die uns Dinge einflüstern, sondern eine App?

Ein Co-Polit fürs Leben

Cheng, 1984 in Los Angeles geboren und inzwischen in New York beheimatet, spekuliert in seiner Kunst nicht nur über eine technopsychedelische Zukunft, er verpasst auch dem Genre des Kinofilms ein Update. Sein Film ist gleichzeitig ein interaktives Spiel, in dem die Zuschauer zu Protagonisten werden. Schon beim Eintritt registriert man sich an einer Art Check-In-Station. Die Reporterin ist nicht mehr die Reporterin sondern „Alice, the Just“, Alice, die Gerechte. Warum und wieso? Die KI hat entschieden.

Life after BOB: Chalice (links) und ihr Wissenschaftler-Vater Dr. Wong.
Life after BOB: Chalice (links) und ihr Wissenschaftler-Vater Dr. Wong.

© 2021 Ian Cheng

Im oberen Stockwerk erfüllt ein blaugraues Nebelmeer, hervorgezaubert durch Laser, die raue Betonhalle. Bis zur Brust taucht man in dieses wabernde Nichts, watet durch Lichtteilchen, ein Szene, die sich später im Film wiederholt. Nach einer Weile betritt man im Rahmen einer zeitlichen Choreografie ein Kino. Dort läuft „The Chalice Study“, die erste von insgesamt acht Folgen, die Cheng plant. Sie spielt in den Jahren 2074 bis 2084. In der „Großen Anomischen Ära“ leben Mensch und Maschine in Symbiose, bewusstseinserweiternde Technologien bewohnen den menschlichen Geist, neuronale Apps gehören zum Alltag, vermarktet etwa vom Multi-Milliarden-Dollar-Unternehmen Zoroaster Immeasurables (ZIM).

Dr. Wong hat bereits einen „Aufgaben-BOB“ und einen „Bestätigungs-BOB“ entwickelt, das neueste und sehr umstrittene mentale Programm heißt „Bestimmungs-BOB“: eine KI, die hilft, einen sinnvollen Lebenspfad einzuschlagen. Dr. Wong pflanzt seiner Tochter Chalice heimlich so einen Bestimmungs-BOB ein, der bisher noch nicht an Menschen getestet worden ist. Leider läuft es nicht gut.

Im Laufe ihres Heranwachsens lässt Chalice sich immer mehr gehen, verliert sich in einer Fantasiewelt, während ihr BOB ihre Konflikte löst. Sogar der Vater kann nicht umhin, die BOB-Seiten an der Tochter mehr zu schätzen als ihr menschliches Selbst. Während Dr. Wong und „Z“, der ehemalige CEO der Tech-Firma Zim, die neue Technologie feiern, steuern die „Humanistas“ besorgt dagegen. Am Ende der ersten Episode wacht Chalice aus ihrer lethargischen Verzweiflung auf, allerdings ist nicht klar, was der Bestimmungs-BOB mit ihrem Bewusstsein gemacht hat. Wie hat sich der digitale Kobold im Kopf auf sie ausgewirkt?

Der Film wird bei jeder Vorführung live gestreamt

Optisch ist Chalice ein hübsches Anime-Mädchen mit einem „Juwel“ zwischen den Augen, eine Hardware-Nadel, über die der BOB gekoppelt werden kann. Mr. Wong hat weiße Haare und trägt eine Brille, „Z“ ist ein dicker Kerl mit Eso-Kette um den Hals. Ian Cheng hat den Film in der Game-Engine-Unity programmiert, in der normalerweise Computerspiele hergestellt werden. Es wurden bereits kürzere Filme mit Unity produziert, der Regisseur von „District 9“, Neill Blomkamp, hat einige gemacht. Noch nie wurde allerdings ein 50-Minuten-Film damit produziert. Cheng betritt hier Neuland.

Zwar läuft die Story immer gleich ab, aber bei jeder Vorführung wird der Film live aus der Spiel-Engine gestreamt. Der Algorithmus verändert laufend kleine Details in der BOB-Welt. Selbst der Künstler kann bestimmte Dinge nicht vorhersehen – und will es auch nicht. Seine Kunst soll auch ihn selbst überraschen, sagt Cheng. In einer vorhergehenden Werkserie hat Ian Cheng Videosimulationen programmiert, bei denen sich Tiere und geometrische Formen, nicht vom Zuschauer gesteuert, sondern im Rahmen ihres Sets an Möglichkeiten immer wieder neu gruppieren und verhalten. So ist es auch bei „The Chalice Study“. Cheng verbindet die narrative Kraft des Kinos mit Life-Animationen.

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Man erlebt den Film in einer kinoähnlichen Zuschauertribüne sitzend, kann allerdings nachher noch tiefer einsteigen. Beim sogenannten „Worldwatching“ können Zuschauer auf zusätzlichen Screens einzelne Szenen des Films ansteuern, nochmal ablaufen lassen, sich einzelne Charaktere genauer ansehen, wie in einem Videospiel, gesteuert durch das eigene Smartphone.

Der Künstler Ian Cheng in seiner Ausstellung in der Halle am Berghain. Seine Arbeiten wurden weltweit ausgestellt, unter anderem im MoMA PS1, New York, in den Serpentine Galleries in London und bei der Venedig Biennale 2019.
Der Künstler Ian Cheng in seiner Ausstellung in der Halle am Berghain. Seine Arbeiten wurden weltweit ausgestellt, unter anderem im MoMA PS1, New York, in den Serpentine Galleries in London und bei der Venedig Biennale 2019.

© 2022 Ian Cheng, Presented by LAS (Light Art Space), Foto: Franziska Taffelt

Es ist eine schmaler Grat, auf dem Ian Cheng hier wandelt. Niemand kann abschätzen, wohin die rasante technologische Entwicklung den Menschen führt, wie unsere Seelen damit klarkommen. Und dennoch leben wir bereits mit Künstlicher Intelligenz. Der Trend ist nicht aufzuhalten, scheint der Künstler zu sagen. Zwar nimmt er im Film eine kritische Haltung ein, thematisiert Gefahren der Mensch-Maschine Beziehung. Andererseits schickt er seine Besucher:innen knietief ins Metaverse.

Man kann sich in der Ausstellung für den Charakter, den man beim Eintritt zugewiesen bekommen hat, ein NFT, ein Non-Fungible Token, in der Blockchain „minten“, sich in einer Online-Community anmelden und in einem Wiki an den BOB-Charakteren weiterschreiben. Es gibt Fan-Artikel zu kaufen, vom T-Shirt bis zur Spieluhr. So sehr man Cheng für seine kühne Kunst bewundert, fragt man sich doch, warum er sein Publikum scheinbar so affirmativ in diese Konsum- und Souvenir-Welt hineinzieht. Die vielen jungen Besucher:innen der Ausstellung nehmen’s gern an. Von der KI gesteuert, zum User degradiert oder selbstbestimmt und gestaltend? Zwischen diesen Polen bewegt sich die Ausstellung. Wie eigentlich die ganze Welt.

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