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Kaiserdarsteller. Wilhelm II. liebte Uniformen über alles – hier in der Uniform der preußischen Garde du Corps, gemalt von Ludwig Noster (o.J.).

© Bernd Settnik/dpa

Kaiser Wilhelm II. und der Erste Weltkrieg: Rückzug ins Schlafzimmer

In seinem Buch „Kaisersturz“ zeigt Historiker Lothar Machtan, wie sich im Oktober 1918 das Schicksal Wilhelms II. entschied: durch Nichtstun.

Seine letzte öffentliche Rede hielt Kaiser Wilhelm II. am 10. September 1918 vor Arbeitern der Krupp’schen Werke in Essen. Darin formte der Monarch ein seltsam schiefes Bild: „Wir sind von oben abkommandiert, ein jeder an seinem Platz, Du an Deinem Hammer, Du an Deiner Drehbank, Ich auf meinem Thron.“ Worum es ihm ging, formulierte er so: „Wir wollen durchhalten bis zum Letzten und nicht die Waffen niederlegen!“

Das Echo in Essen war mau, die Rede und die nachfolgende Propaganda, die mit ihr getrieben wurde, ein einziges Fiasko, wie der Bremer Historiker Lothar Machtan in seinem Buch „Kaisersturz“ zu berichten weiß. Darin zeichnet Machtan die handelnden Personen aus Hofstaat und Militär schonungslos in ihrer Unfähigkeit, sich der Realität zu stellen – der unausweichlichen Niederlage an der Westfront, nachdem die letzten Offensiven gescheitert waren und abermals Hunderttausende von Toten gefordert hatten.

Konfrontation mit der bitteren Realität

Der Krieg bildet die Folie, vor der sich das Drama der kaiserlichen Unfähigkeit abspielt. Machtan nennt Wilhelm „tiefinnerlich alles andere als souverän, sondern eine bemitleidenswerte, von Skrupeln zermürbte, manipulierbare Persönlichkeit, die sich in der Selbstinszenierung verausgabte“. Machtans Buch ist allerdings keine ausgeführte Charakterstudie Wilhelms; die hat der englische Historiker John C.G. Röhl schon vor vielen Jahren in den drei Bänden seiner unübertroffenen Biografie geliefert.

Am 29. September 1918 wird der Kaiser von der Obersten Heeresleitung schonungslos mit der bitteren Realität der anstehenden Niederlage konfrontiert. Die unumgängliche Parlamentarisierung des Reiches wird ihm mitgeteilt, der neue – und letzte kaiserliche – Reichskanzler Max von Baden aufgezwungen. Wilhelm hatte längst nichts mehr zu sagen, aber nun bewahrte ihn seine Umgebung nicht mehr davor, mit dieser Machtlosigkeit konfrontiert zu werden. Am 2. Oktober dann der endgültige Zusammenbruch: „Noch am selben Tag tauschte er seine Paradeuniform gegen ein Nachthemd ein und sollte für fünf volle Tage sein Bett im Neuen Palais nicht mehr verlassen.“

Der Verfall nicht nur der persönlichen Autorität des Kaisers, sondern der Monarchie als Institution schreitet rasend schnell voran – und mit der preußisch-kaiserlichen Monarchie die Stellung aller 19 damals noch regierenden Monarchen in den Gliedstaaten des Deutschen Reiches, deren gleichzeitiger Abdankung Machtan 2008 ein ebenso lesenswertes Buch gewidmet hatte.

In den entscheidenden Tagen versagt Wilhelm

In den entscheidenden Tagen, als er durch einen Thronverzicht vielleicht die Monarchie zumindest für Preußen noch hätte retten können, versagt Wilhelm; und wahrlich nicht zum ersten Mal. So geht es weiter bis zur dritten Note des US-Präsidenten Wilson, die am 21. Oktober eintrifft und nunmehr unmissverständlich die Abdankung des Kaisers fordert. Machtan beschreibt nahezu jeden einzelnen Tag in diesem Schauspiel von Machtverfall, Inkompetenz und Eitelkeit mit geradezu kriminalistischer Genauigkeit. Was dabei notwendigerweise zu kurz kommen muss, ist der Blick auf die reichsdeutsche Gesellschaft, deren Stimmungen und Meinungen sich gleichermaßen rapide verändern. Die Ablehnung, die Wilhelm in der Krupp’schen Festhalle entgegenschlug, war ein deutliches Anzeichen, das den Kaiser selbst hätte erreichen können, wäre er nicht so borniert gewesen, wie er nun einmal war.

Der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert, der zur Schlüsselfigur beim Übergang der Regierung auf parlamentarische Kräfte noch vor dem Schicksalstag des 9. November wird, versagt in Machtans Augen, „vor allem, weil er die Instabilität, die Morschheit des Wilhelminischen Staatsgefüges nicht wahrhaben wollte“. Er wollte die Monarchie bewahren, getrieben von der Furcht vor russischen Zuständen: „Schon in der letzten Oktoberwoche war mit der deutschen Monarchie kein Staat mehr zu machen. Wer wie Ebert davor die Augen verschloss, der wurde zum – Konkursverschlepper.“

Berliner Volksaufstand besiegelte das Ende der Monarchie

Ein hartes Wort. Doch am 9. November war es schließlich vorbei, „weil der mutige Berliner Volksaufstand an jenem Tag eine anachronistisch gewordene Welt der Politik endgültig aus den Angeln hob, die Welt des preußisch-deutschen Machtstaats“. Und dennoch: „Im Vergleich zur russischen Februarrevolution von 1917“ – der bürgerlichen, wohlgemerkt! – „war der antimonarchische Impetus der deutschen Volkserhebung wesentlich schwächer ausgeprägt, ja kaum vorhanden. Die symbolische Zerstörung des gestürzten Regimes unterblieb.“ Nirgendwo wurden Denkmäler gestürzt oder auch nur beschädigt.

Es war „eine zutiefst deutsche Revolution, nachgerade peinlichst darum bemüht, als ausdrücklicher Gegenentwurf zur russischen wahrgenommen zu werden“. Nach 300 Seiten minutiöser Schilderung eines unfassbar realitätsblinden, entscheidungsunfähigen Kostümregimes ist das ein verständlicher, wenngleich einseitiger Schluss. Denn ob die Monarchie nun rechtzeitig oder eher zu spät verschwand – sie verschwand jedenfalls, und zwar so, dass ihr von Stund’ an niemand im Reich mehr nachtrauerte. Das ist, im Vergleich zu Herrscherstürzen anderenorts, durchaus bemerkenswert.

Lothar Machtan: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht. wbg Theiss Verlag, Darmstadt 2018. 352 S. m 49 Abb., 24 €.

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