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Präzisionsarbeiter. Michael Gielen in Aktion.

© Katja Lenz/dpa

Michael Gielen zum 90.: Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit

Er ist ein Präzisionsarbeiter, brachte Zimmermanns "Die Soldaten" zur Uraufführung und prägte die Frankfurter Oper. Am heutigen Donnerstag feiert der Dirigent Michael Gielen seinen 90. Geburtstag.

„Res severa verum gaudium – wahre Freude ist eine ernste Sache.“ Dieser Ausspruch des römischen Philosophen Seneca, der im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses über dem Orgelprospekt prangt, würde auch perfekt als das Credo des Michael Gielen passen. Denn auf der Suche nach der Wahrheit im Notentext hat er sich selbst wie auch seine Mitmusiker stets unerbittlich gefordert. Und wurde dafür von den Orchestern gleichermaßen geschätzt wie gefürchtet.

Als Außenseiter des Musikbetriebs sah er sich selber von Anfang an, als Spezialist für das Komplexe galt er schon in jungen Jahren. Denn der 1927 in Dresden geborene Sohn des Regisseurs Josef Gielen war ganz selbstverständlich mit der Musik von Arnold Schönberg aufgewachsen, in Buenos Aires, wohin sich seine Familie vor den Nazis geflüchtet hatte. Weil seine Lehrer, ebenfalls Emigranten, allesamt dem direkten Umkreis des Zwölftonkomponisten entstammten.

Von Beethoven zurück zu Bach

Im Gegensatz zu den allermeisten Interpreten hat sich Michael Gielen die Musikgeschichte also von vorne nach hinten erschlossen, beginnend mit den aktuellsten Errungenschaften und dann erst weiter über Beethoven bis zu Bach. Sein erstes Engagement am Teatro Colon erhielt er als Probenpianist für Erich Kleibers „Tristan“-Produktion – weil sich die hauseigenen Kräfte dieser schwierigen Partitur nicht gewachsen sahen. Nach der Rückkehr in europäische Gefilde gab Gielen sein Dirigierdebüt an der Wiener Staatsoper mit Honeggers 1938 uraufgeführter „Jeanne d’Arc au bûcher“, 1965 brachte er – gegen den erbitterten Widerstand des Kölner Gürzenichorchesters – Bernd Alois Zimmermanns Meisterwerk „Die Soldaten“ zur Uraufführung.

Das Jahrzehnt ab 1977, als Gielen zusammen mit dem Dramaturgen Klaus Zehelein die Frankfurter Oper prägte, gilt heute als legendär innovativ, in musikalischer wie szenischer Hinsicht. Mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, das er im Anschluss übernahm und bis 1996 leitete, kämpfte er weiter fürs Zeitgenössische – und erarbeitete sich gleichzeitig ein immer breiteres sinfonisches Repertoire, bis hin zu Wagner, Bruckner und Johann Strauß.

Aus dem Konzertleben hat er sich zurückgezogen

Nach dem Fall der Mauer wurde Gielen dann zu einer prägenden Gestalt im Berliner Musikleben: Beim heutigen Konzerthausorchester, dessen Ehrenmitglied er mittlerweile ist, und bei der Staatskapelle, die ihn offiziell immer noch in der Funktion des 1. Gastdirigenten führt. Obwohl er sich mittlerweile ganz aus dem Konzertleben zurückgezogen hat. Als Gielen 2005 an der Lindenoper Verdis „Macht des Schicksals“ erarbeitete und sich so gar nicht mit den Ideen des jungen Regisseurs Stefan Herheim anfreunden konnte, gab er das Musiktheater auf, 2012 war er das letzte Mal in einem Berliner Konzertsaal zu erleben, sein allerletztes sinfonisches Programm gab er als 87-Jähriger.

Seinen 90. Geburtstag am heutigen Donnerstag feiert der Dirigent in einem stillen Winkel des Salzkammerguts. Hier hat der unermüdliche Wahrheitssucher tatsächlich für sich den Rhythmus des Ruhestands gefunden.

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