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Eine Mieten-Demo in Kreuzberg. Am Samstag startet das Berliner Volksbegehren zur Wohnungs-Enteignung.

© Maurizio Gambarini/dpa

Von Brexit bis Enteignung: Das Verführerische an der direkten Demokratie

Ringsum ertönt der Ruf nach direkter Demokratie, wie jetzt zur „Enteignung“ von Wohnungsunternehmen in Berlin. Soll man ihm nachgeben?

Von Caroline Fetscher

Man müsse nur mal die Leute fragen, heißt es gerne, dann komme die beste Lösung schon ans Licht. Das kann gut gehen. Das kann aber auch schiefgehen. In Berlin beginnt am Samstag die Initiative für ein umstrittenes Volksbegehren. Tausende engagierter Leute von Bürgerinitiativen, Verbänden und Parteien wollen dabei durch Berlins Straßen laufen und Unterschriften für das Anliegen sammeln, große Konzerne zu „enteignen“, die mehr als 3000 Wohnungen besitzen und einen überdimensionalen Teil des Mietmarktes dominieren.

Unter ihnen ist die „Deutsche Wohnen“, berühmt und berüchtigt für fehlende Sanierungen, Renovierungen und missliche Zustände in den vier Wänden, die sie Wohnenden gegen monatliche Zahlung zur Verfügung stellen. Parallel soll es bei dem europaweiten Aktionstag Demos in München, Köln, Dortmund, Dresden, Freiburg und Leipzig geben, und in Metropolen wie Paris, Barcelona, Lissabon.

Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit

Ab mittags um zwölf auf dem Berliner Alexanderplatz ertönt das Motto: „Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn“. Verdrängt wird bei den fraglichen Konzernen nicht nur der Mieter, sondern auch Absatz 2 von Artikel 14 des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Und Teile der Aufbegehrenden verdrängen Artikel 14 Absatz 3: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt.“

Die Protestierenden berufen sich vor allem auf Artikel 15 des Grundgesetzes, der das Enteignen von Grund und Boden oder auch Produktionsmitteln unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erklärt. Um „Enteignen“ im Sinn des Wortes geht es hier, so erklären Rechtskundige, allerdings gar nicht.

Es geht darum, dass Wohnkonzerne, die dem Staat einst für den Inhalt eines Sparschweins einen Schatz an Immobilien abgekauft haben, ihn sich wieder abkaufen lassen, und zwar für den Inhalt eines Tresors von Dagobert Duck. Indem sie sich widersetzen, treiben sie die zweistellige Milliardensumme hoch, die sie zu ergattern hoffen, sollte das Begehren Erfolg haben.

Von unwiderstehlicher Evidenz sind Parolen der Volksbegehrenden wie „Wohnen ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht“ oder „Markt macht Armut“, eine Dynamik, die in den Metropolen Europas überall zu beobachten ist, von der London, Hamburg, München schon seit Jahrzehnten betroffen sind. Volkes Stimme soll jetzt Gehör finden, Volkes Verstimmung gehört werden.

Ein Traum von Basisdemokratie

Geht der Aufstand wider die Miethaie für die Mieter glücklich aus, wäre zu hoffen, dass Europas Staaten sich auf das Genossenschaftsmodell besinnen: das einzige, das mittel- und langfristig Sicherheit verspricht. Doch auch ohne das teure „Enteignen“ sollten sie daran so prioritär denken wie an den Bau von Schulen und Straßen.

Darüber hinaus wirft die aktuelle Initiative die Frage nach der Volksbefragung auf, nach Volksabstimmung, Volksbegehren, Referendum. Kaum etwas wird derzeit lieber diskutiert als direkte Demokratie. Eine der Vorlagen lieferte der Belgier David Van Reybrouck 2016 mit seiner Streitschrift „Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“. Van Reybrouck stellt zahlreiche Modelle direkter Demokratie vor, die der Entmündigung von Bürgern durch das repräsentative Wahlsystem entgegenwirken sollen.

Bei öffentlichen Vorhaben wie Großprojekten, bei Neuregelungen, Gesetzesreformen und Ähnlichem sollen per Losverfahren Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern ermittelt werden, die – etwa wie beim Schöffengericht – als Laien gemeinsam Entscheidungen treffen. Instruiert von Experten, etwa Ingenieuren, Juristen oder Architekten, sollen diese Kleingruppen in die Lage versetzt werden, ihre Schwarmintelligenz zu aktivieren und für die Großgruppen passende Entscheidungen zu treffen. Ein Traum von Basisdemokratie!

Unter welcher Voraussetzung wird die Bevölkerung befragt?

Doch der bloße Blick auf das britische Referendum zur Frage des Verbleibs der Insel in der Europäischen Union zeigt, wie manipulierbar und angreifbar das Volk in seinem Begehren sein kann. Skrupellose Adepten des Ausstiegs versprachen den Abstimmenden das Blaue vom Himmel herunter, zig Millionen täglich, die statt nach Brüssel ins britische Gesundheitswesen strömen würden. Evoziert wurde zudem ein ethnisch homogenes Nationalparadies aus Autonomie und Ausländerlosigkeit. Grotesker hätten die Versprechungen kaum sein können.

Teilnehmer des "Put it to the people"-Marsches in London forderten im März ein weiteres Referendum.
Teilnehmer des "Put it to the people"-Marsches in London forderten im März ein weiteres Referendum.

© Han Yan/XinHua/dpa

Bangend, zitternd, sehnsüchtig wünscht sich heute halb Europa, die britische Regierung möge die verfahrene Lage im Parlament durch das Ausrufen eines neuen Referendums beenden. Seit Monaten plagt sich das Unterhaus mit dem Brexit ab, ohne zu einem klaren Votum, zu überhaupt irgendeinem Resultat zu gelangen.

Je deutlicher sich die Realitätsferne des Brexitprojekts abzeichnet, desto undeutlicher werden die Voten der Abgeordneten. Fazit: Das vom Populismus getriebene Brexit-Szenario vor drei Jahren hat bei den einen zu Ernüchterung, bei den anderen zu noch verschärftem Populismus geführt. Gern wird jetzt Brecht zitiert, wenn auch anders, als er es in den Buckower Elegien gemeint hatte mit seiner Kritik an der sowjetischen Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juli 1953: „Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“

Die Schweiz scheint die Balance gefunden zu haben

Denn bei den Briten zeigt sich, wie so oft beim Beschwören des „Volkes“, dass die zentrale Vokabel der Demokratie „Informiertheit“ lautet, politische Bildung. Unter welcher Voraussetzung wird die Bevölkerung befragt oder initiiert sie ein Begehren? Wie konkret kennt sie die Fakten, wie kompetent kann sie diese einordnen? Wie deutlich stehen den Abstimmenden die Folgen ihres Votums vor Augen? Wieviel Zeit und Wissen haben sie, sich in Dokumente zu vertiefen, sich kundig zu machen?

Ein Vertreter von ProTell, der Schweizer Gesellschaft für ein freiheitliches Waffenrecht vor dem Referendum im Mai.
Ein Vertreter von ProTell, der Schweizer Gesellschaft für ein freiheitliches Waffenrecht vor dem Referendum im Mai.

© AFP/Stefan Wermuth

Von der Schwarmintelligenz der Masse kann nicht die Rede sein, wo der Masse etwas vorgeschwärmt wird, dem sie nachschwärmt. Selbst akademische und kritische Geister in Großbritannien hatten sich vom Schwung der Populisten und Demagogen mitreißen lassen, was sie heute, mit mehr Kenntnis, bereuen, wie der britische Journalist Roger Boyes, der sich in einem Essay im Tagesspiegel der Unkenntnis bezichtigte.

In der Schweiz, wo es seit Generationen Erfahrungen mit Referenden gibt, vertiefen sich die friedensgewohnten Demokraten in teils kiloschwere Papierstapel, ehe sie ihre Kreuzchen setzen. Mit Glück wenden sie das Desaster ab, dem öffentlichen Rundfunk den Garaus zu machen. Mit weniger Glück verabschieden sie ausländerfeindliche Regelungen, auch das ist schon vorgekommen.

Alles in allem scheinen sie jedoch – bei allgemein herausragendem Bildungsniveau – die Balance gefunden zu haben zwischen repräsentativer Demokratie und Elementen der direkten Demokratie. Die Basis der Basisdemokratie hat das größte B von allen: Bildung. Von Volksbegehren, die Milliarden für die Schulen fordern, auch wenn das mehr Steuern kostet, hat man bisher allerdings noch nicht gehört.

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