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Auf einem Computermonitor ist ein Mauszeiger auf einem Button zu sehen, mit dem man eine gefälschte Nachricht melden kann.

© Franziska Gabbert / dpa

Desinformation: Was Fake News und Drogen verbindet

Im Kampf gegen Desinformation geht es wie im gescheiterten „War on Drugs“ gegen die Angebotsseite. Doch auch die „User“ tragen Verantwortung. Ein Gastbeitrag

Es sind schwierige Zeiten für die liberale Demokratie. Aber von allen Bedrohungen, die in den letzten Jahren aufgekommen sind – Populismus, Nationalismus, Illiberalismus – sticht eine als wichtiges Instrument hervor, das die übrigen ermöglicht: die Verbreitung und der Einsatz von Desinformation als Waffe.

Die Bedrohung ist nicht neu. Regierungen, Lobbygruppen und andere Interessen setzen seit langem auf Desinformation als Instrument der Manipulation und Kontrolle. Neu ist aber die Leichtigkeit, mit der Desinformation produziert und verbreitet werden kann. Technologische Fortschritte ermöglichen eine immer perfektere Manipulation oder Herstellung von Video- und Audiomaterial, während die allgegenwärtigen Social Media eine rasche Verbreitung falscher Informationen unter empfänglichen Nutzern ermöglicht.

„Zersetzung der Wahrheit“

Abgesehen davon, dass Unwahrheiten in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden, kann die Verbreitung von Desinformation die Möglichkeit des Diskurses selbst untergraben, indem sie die tatsächliche Faktenlage in Frage stellt. Diese „Zersetzung der Wahrheit“ – die in der weit verbreiteten Zurückweisung von Experten und Sachkenntnis deutlich wird – untergräbt das Funktionieren demokratischer Systeme, die darauf angewiesen sind, dass Wählerinnen und Wähler in der Lage sind, fundierte Entscheidungen beispielsweise über die Klimapolitik oder die Prävention übertragbarer Krankheiten zu treffen.

Der Westen hat lange gebraucht, um das Ausmaß dieser Bedrohung zu erfassen. Inzwischen werden systematische Anstrengungen zur Bekämpfung von Desinformation unternommen. Bisher lag der Schwerpunkt auf taktischen Ansätzen, die auf die „Anbieterseite“ des Problems abzielen: die Entlarvung von Fake-Accounts aus Russland, die Blockierung unseriöser Quellen und die Anpassung von Algorithmen, um die Veröffentlichung falscher und irreführender Nachrichten einzuschränken. Europa hat bei der Entwicklung politischer Antworten eine Vorreiterrolle übernommen, etwa durch Leitlinien für die Industrie sowie für nationale Rechtsvorschriften und die strategische Kommunikation.

Solche taktischen Maßnahmen, die relativ einfach umzusetzen sind und schnell greifbare Ergebnisse bringen. sind ein guter Anfang. Aber sie reichen bei weitem nicht aus. Bis zu einem gewissen Grad scheint Europa dies zu erkennen. Anfang dieses Monats organisierte die US-Denkfabrik Atlantic Council die #DisinfoWeek Europe, eine Reihe von strategischen Dialogen, die sich mit der globalen Herausforderung der Desinformation befassen. Und ehrgeizigere Pläne sind bereits in Arbeit, darunter die kürzlich von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagene „Europäische Agentur für den Schutz der Demokratie“, die feindlichen Manipulationskampagnen entgegenarbeiten soll.

Aber wie so oft in Europa besteht eine Diskrepanz zwischen Worten und Taten, und es bleibt abzuwarten, wie all dies umgesetzt und ausgebaut werden soll. Auf jeden Fall werden solche Initiativen, auch wenn sie tatsächlich auf den Weg gebracht werden, nur dann erfolgreich sein, wenn sie von Anstrengungen begleitet werden, die die Nachfrageseite des Problems angehen: also diejenigen Faktoren, die liberale demokratische Gesellschaften heute so anfällig für Manipulation machen. Die im so genannten „War on Drugs“ ergriffen Maßnahmen im Rahmen der US-amerikanischen Drogenpolitik sind spektakulär gescheitert, auch weil sie sich ausschließlich auf die Bekämpfung und Unterbrechung des Angebots konzentrierten, ohne die nachfragebestimmenden Faktoren zu berücksichtigen. Auch wenn die Analogie nicht ganz treffend sein mag, ist die Lehre daraus relevant. Wenn wir ein ähnliches Scheitern im Kampf gegen Desinformation vermeiden wollen, müssen wir über taktische Maßnahmen hinaus eine breit angelegte Strategie entwickeln, die sowohl Angebot als auch Nachfrage berücksichtigt.

Verantwortungsbewusstsein der Bürger stärken

Ein Teil der Antwort liegt in der öffentlichen Bildung – etwa durch die Einbindung von Medienkompetenz in schulische Lehrpläne, wie es in Italien gemacht wird. Es ist aber ebenso notwendig, das persönliche Verantwortungsbewusstsein der Bürger zu stärken. Das wird nicht einfach sein, denn es bedarf einer Neuordnung des Verhältnisses zwischen Regierung und Regierten. Derzeit ähnelt diese Beziehung eher der Interaktion zwischen einem Dienstanbieter und seinen Abonnenten. Eine passive Beziehung schwächt das Gefühl der Bürger selbst aktiv handlungsfähig und verantwortlich zu sein, und eine entmündigte und abgekoppelte Bevölkerung wird zu einem leichten Ziel für diejenigen, die Desinformation verbreiten.

Vor sieben Jahrzehnten legte der amerikanische Diplomat George F. Kennan unter dem Pseudonym „X“ die intellektuellen Grundlagen für die Eindämmungspolitik, die die Grand Strategy des Westens gegenüber der Sowjetunion während des gesamten Kalten Krieges definierte. In seinem berühmten Artikel „The Sources of Soviet Conduct“ warnte Kennan davor, dass die physische Eindämmung des sowjetischen Einflussbereichs nur ein Teil der Antwort sei. Die Vereinigten Staaten würden auch – und vor allem – die Widerstandsfähigkeit und Ausstrahlungskraft ihrer Gesellschaft unter Beweis stellen müssen.

Ureigenen Traditionen gerecht werden

Wie Kennan es ausdrückte, war es unerlässlich, „unter den Völkern der Welt insgesamt den Eindruck eines Landes zu erwecken, das weiß, was es will, das die Probleme seines innerstaatlichen Lebens und der Verantwortung einer Weltmacht erfolgreich bewältigt und das eine geistige Vitalität besitzt, die es befähigt sich unter den großen ideologischen Strömungen der Zeit zu behaupten“. Zu diesem Zweck sollten die USA „ihren ureigenen Traditionen gerecht werden und sich der Bewahrung als große Nation würdig erweisen“.

Drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges bleibt dies die zentrale Herausforderung für den Westen: Es gilt unseren „ureigenen Traditionen“ gerecht zu werden und zu beweisen, dass unsere freiheitlichen demokratischen Ideale „erhaltenswert“ sind. Wenn wir die Gesellschaften nicht von innen heraus stärken, können wir nicht hoffen, Bedrohungen von außen standzuhalten. Damit dies gelingt, brauchen wir sowohl taktische Kompetenz als auch eine strategische Vision, die keinen Zweifel daran lässt, wofür wir kämpfen.

Ana Palacio ist ehemalige spanische Außenministerin und ehemalige Vizepräsidentin der Weltbank und außerdem Mitglied des spanischen Staatsrats und Gastdozentin an der Georgetown University. Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Copyright: Project Syndicate, 2019.

Ana Palacio

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