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In Deutschland müssen viele Menschen wegen Bagatelldelikten Haftstrafen absitzen.

© dpa/Arne Dedert

„Einige von ihnen nehmen sich das Leben“: Reicht die geplante Reform der Ersatzfreiheitsstrafe aus?

Das Bundesjustizministerium hat einen Gesetzentwurf für eine Neuregelung der Ersatzfreiheitsstrafe vorgelegt. Er sieht vor, dass die Haftstrafen halbiert werden.

„Mein Vater verstarb vor drei Jahren, da fing die Demenz meiner Mutter an. Meine Schwester verstarb danach und jetzt kümmere ich mich allein um meine Mutter. Das geht durch meine Inhaftierung nicht mehr. Bitte ermöglichen Sie mir, dass ich wieder für meine Mutter sorgen kann.“

Diesen Brief hat ein verzweifelter Häftling an die Organisation „Freiheitsfonds“, die Schwarzfahrer:innen aus dem Gefängnis freikauft, geschrieben. Derlei Gesuche sind häufig, selbst Justizvollzugsanstalten melden sich bei „Freifonds“ und bitten um Entlastung.

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Jedes Jahr werden in Deutschland rund 50.000 Menschen wegen der sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe inhaftiert, die meisten von ihnen wegen Fahrens ohne gültigen Fahrschein, danach kommen Diebstahl und Kleinkriminalität. Eine Ersatzfreiheitsstrafe muss antreten, wer eine vom Gericht verhängte Geldstrafe nicht zahlt.

Die Geldstrafen werden in Tagessätzen verhängt, deren Höhe vom Einkommen der Verurteilten abhängt. Von der Haft sind also vor allem arme Menschen betroffen. Viele Menschen finden diese Regelung ungerecht: Das Gericht ist im Urteil ja gerade zu der Auffassung gekommen, dass eine Haftstrafe der Tat nicht angemessen ist; es hat sich also bewusst für eine Geldstrafe entschieden. 

Das Problem ist das Stigma, das mit der Haftstrafe einhergeht, das wird durch die Halbierung der Haftzeit nicht gemindert.

Manuel Matzke, Sprecher der bundesweiten Gefangenengewerkschaft GG/BO

Kritisiert wird überdies, dass die Ersatzfreiheitsstrafe den Staat viel Geld kostet. An jedem Tag der Jahre 2011 bis 2019 saßen durchschnittlich 4326 Personen im Gefängnis, nur weil sie ihre Geldstrafe nicht zahlen konnten. Ein Tag im Gefängnis kostet den Staat etwa 150 Euro.

Die Ampelkoalition will das Sanktionenrecht deshalb reformieren. Der aktuelle Gesetzentwurf, den Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vorgelegt hat, und über den im Bundestag jüngst erstmals diskutiert worden ist, will die Ersatzfreiheitsstrafe jedoch dennoch nicht ganz abschaffen.

Er sieht lediglich vor, dass es künftig für zwei Tage Geldstrafe nur noch einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe gibt, die Haftstrafe also halbiert wird. „Wir gehen von einem hohen Einsparvolumen für die Länder im zweistelligen Millionenbereich aus. Wenn das Geld im System der Justiz bleibt, ist dem Rechtsstaat sehr geholfen“, kommentierte Justizminister Marco Buschmann die Entscheidung. Die Ersatzfreiheitsstrafe sei in der Praxis ein nachweisbar wirksames Mittel, um die Geldstrafe durchzusetzen, sagte er dem Tagesspiegel.

Diejenigen, die glaubten, es ginge auch ohne sie, verwiesen gern auf Schweden. „In der Tat spielte die Ersatzfreiheitsstrafe dort viele Jahre nahezu keine Rolle mehr. Mit der Folge: Genau 41,4 Prozent aller 2015 rechtskräftig verhängten Geldstrafen konnten innerhalb von fünf Jahren nicht vollstreckt werden und waren so verjährt.“ Es sei also in fast der Hälfte aller Fälle eine rechtskräftig festgestellte Straftat im Ergebnis sanktionslos geblieben. „Das kann niemand wollen“, so Buschmann.

Wir gehen von einem hohen Einsparvolumen für die Länder im zweistelligen Millionenbereich aus. Wenn das Geld im System der Justiz bleibt, ist dem Rechtsstaat sehr geholfen.

Marco Buschmann, Bundesjustizminister (FDP).

Manuel Matzke, der Sprecher der bundesweiten Gefangenengewerkschaft GG/BO, bedauert, dass die Ampel nicht ganz von der Ersatzfreiheitsstrafe absehen will. „Das Problem ist doch das Stigma, das mit der Haft einhergeht“, sagte er dem Tagesspiegel. „Das wird durch die Hälfte der Haftzeit nicht gemindert. Hier verlieren Menschen ihre Wohnung, ihre Therapie, ihren Job, ihre Würde – dafür, dass sie verwahrt werden.“

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Viele der Betroffenen haben mit Suchterkrankungen zu kämpfen. Und es gibt sogar ein Gesetz, das Gesundheit vor Strafe stellt: Laut Paragraf 35 Betäubungsmittelgesetz kann eine Haftstrafe bis zu zwei Jahre ausgesetzt werden, wenn der Betroffene sich wegen seiner Abhängigkeit in eine Therapie begibt. Doch für Ersatzfreiheitsstrafen gilt dieser Paragraf explizit nicht.

Die geplante Reform bezeichnet Matzke als „reine Farce“. Die Betroffenen würden weiterhin für ihre Armut bestraft, alles andere sei „Schöngewäsch“. „Wir fordern eine völlige Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein.“ Zu den Stigmata durch die Ersatzfreiheitsstrafe kämen nicht selten Traumata, berichtet Matzke.

50.000
Menschen müssen in Deutschland jährlich eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen.

„Es gibt für diese Menschen keine Vollzugspläne, sie sollen da einfach ihre Zeit absitzen, kurz sie werden einfach verwahrt. Eine Täter*innentrennung findet in der Institution Knast ebenfalls nicht statt. Sodass Menschen, welche beispielsweise ohne gültigen Fahrschein gefahren sind, mit Menschen konfrontiert werden, welche zum Beispiel wegen schwerer Körperverletzung oder anderen Sachen inhaftiert sind.“

Es gibt nur negative Folgen. Wir sprechen von Desozialisierung. Wenige Wochen oder Monate können ausreichen, um einen Menschen sozial zu entwurzeln.

Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Matzke erzählt von einem Gehörlosen, der von der Zeit im Vollzug völlig überfordert gewesen sei, von der Mutter eines wenige Monate alten Babys, die ihr Kind in die Obhut des Jugendamts geben soll, um eine Ersatzfreiheitsstrafe anzutreten, von einem Obdachlosen, der 80 Tage absitzen musste.

Ist es wirklich so schlimm? Freiheitsentzug sei ohnehin hochproblematisch, sagte Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Bei einer längeren Haftstrafe kann es unter Umständen positive Entwicklungen geben, wenn etwa Ausbildung oder Behandlung stattfinden. Bei den relativ kurzen Ersatzfreiheitsstrafen gibt es nur negative Folgen. Wir sprechen von Desozialisierung. Wenige Wochen oder Monate können ausreichen, um einen Menschen sozial zu entwurzeln.“

Kriminolog:innen halten die Ersatzfreiheitsstrafe für kontraproduktiv

Aus kriminologischer Sicht brauche es die Ersatzfreiheitsstrafe nicht, sie sei vielmehr kontraproduktiv. Warum der Gesetzgeber mit der Reform dennoch nur den halben Weg gegangen sei, sei ihm schleierhaft, sagt Singelnstein. „Offenbar besteht die Sorge, dass Menschen ohne diese Drohgebärde nicht zahlen würden. Die Realität sieht aber anders aus. Die Menschen, die nicht zahlen, sind vor allem solche, denen die sozialen Ressourcen und Kapazitäten fehlen, mit Strafverfahren und Geldstrafe umzugehen, die nicht in der Lage sind, die Haftstrafe abzuwenden.“

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Mit sozialer Arbeit sei deutlich mehr zu erreichen, meint auch Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. „Hier geht es um Menschen, die häufig gar nichts von ihrer Geldstrafe mitbekommen haben. Sie dafür noch einmal zu bestrafen, das ist eine unbillige Härte.“

Der Verband kritisiert die Reform. „Sie geht längst nicht weit genug.“ Die Ersatzfreiheitsstrafe sei nichts anderes als ein moderner Schuldturm, meint Schneider. „Das Zurückzahlen von Schulden um jeden Preis ist in Deutschland quasi heilig, das ist ein ehernes Gebot. In einer aufgeklärten Gesellschaft sollte man eigentlich weiter sein.“

Grünen und SPD geht der Entwurf nicht weit genug

Auch in der Ampel ist man uneins darüber, ob es sich bei der Reform nicht eher um ein Reförmchen handelt. 95 Prozent der Inhaftierten, die eine Ersatzfreihaftstrafe verbüßten, müssten mit einem Nettoeinkommen von unter 1000 Euro auskommen, legte der SPD-Abgeordnete in seiner Rede im Bundestag dazu dar.

Es kann für uns niemals hinnehmbar sein, dass insbesondere Menschen, die von Armut betroffen sind, den Weg in die Haftanstalt antreten müssen.

Carmen Wegge, Rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion.

„Sie haben persönliche Probleme, lesen ihre Post nicht, sind nicht in der Lage, mit einem Strafbefehl umzugehen und ihr Leben aus eigener Kraft zu ordnen. Dass solche Bürgerinnen und Bürger für Bagatelldelikte eine Haftstrafe verbüßen müssen, das ist dieses Staats unwürdig.“

Auch Carmen Wegge, die rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion; sagte dem Tagesspiegel, dass es nun zu prüfen gelte, ob es noch weitere Möglichkeiten des Gesetzgebers gebe, um Ersatzfreiheitsstrafen zu verhindern. „Es kann für uns niemals hinnehmbar sein, dass insbesondere Menschen, die von Armut betroffen sind, den Weg in die Haftanstalt antreten müssen.“

15
Prozent der Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen müssen, sind suizidal.

Den Grünen geht der Entwurf von Bundesjustizminister Marco Buschmann ebenfalls nicht weit genug. „Dass Menschen für das Fahren ohne Fahrschein strafrechtlich belangt werden, während beispielsweise das Parken ohne Parkschein nur eine Ordnungswidrigkeit darstellt, ist ungerecht“, sagte Canan Bayram, die Obfrau des Rechtsausschusses dem Bundestag, dem Tagesspiegel. Bayram fordert außerdem eine Anpassung der Bemessung der Tagessatzhöhe. „Diese sollte sich nach der tatsächlichen Zahlungsfähigkeit der Betroffenen und nicht nach reinen Schätzungen richten.“ Im Koalitionsvertrag habe man sich auf die europarechtskonforme, d.h. antragsunabhängige, Gewährleistung von Verteidigung für Beschuldigte geeinigt. „Wir erwarten daher einen entsprechenden Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium.“

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Kritik hagelt es auch aus der Opposition. Mit der Halbierung der Hafttage allein ändere sich nichts am Kernproblem, sagte Clara Bünger, die rechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, dem Tagesspiegel. „Auch eine kürzere Haft ist für Betroffene ein verdammt großer Einschnitt in ihr Leben mit schwerwiegenden Konsequenzen. Ihnen drohen durch den Aufenthalt im Gefängnis ein weiterer sozialer Abstieg, Arbeits- und Wohnungsverlust, soziale Isolation und Stigmatisierung. Unter Resozialisierung und Prävention verstehe ich jedenfalls etwas anderes.“

Die Soziologin Nicole Bögelein erforscht an der Universität Köln seit vielen Jahren Fragen rund um die Ersatzfreiheitsstrafe. Sie weiß, dass vor allem in der Anfangsphase fünfzehn Prozent der Menschen, die sie absitzen müssen, suizidal sind. „Einige von ihnen nehmen sich auch das Leben.“ Sie spricht von einem Inhaftierungsschock.

„Der Autonomieverlust, eingesperrt zu sein, das macht was mit einem Menschen. Durch die Reform wird das niemandem erspart, sie bleiben nur kürzer im Gefängnis. Und das für Delikte, wo Rechtsgefühl sagen würde, das sind Bagatelldelikte. Wo zuvor ein Gericht entschieden hatte, dass für den Fall keine Inhaftierung notwendig ist, sondern die Geldstrafe genügt.“

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