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Roman Protassewitsch (M), Oppositionsaktivist und Blogger, nimmt an einer Kundgebung der Opposition in Minsk teil. (Archivbild)

© dpa/Uncredited/AP/dpa

Update

Körpersprache-Experte sieht „auffallende Elemente“: Zweifel am Video-Geständnis des belarussischen Bloggers Protassewitsch

Der Regimekritiker Roman Protassewitsch gibt nach seiner Verhaftung eine Erklärung ab. Entstand das 30-sekündige Video unter Zwang und Gewalteinwirkung?

Von Thomas Sabin

Roman Protassewitsch hält die Hände ineinander verschränkt, die Unterarme fest auf dem dunkelbraunen Massivholztisch. Er sieht müde aus. Augenringe liegen tief in seinem Gesicht. Er sieht anders aus als sonst. Er trägt einen schwarzen Hoody. Neben ihm liegen eine Schachtel Zigaretten und Streichhölzer. Dann beginnt der belarussische Blogger zu sprechen.

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„Guten Tag, ich bin Roman Protassewitsch, gestern wurde ich am nationalen Flughafen in der Stadt Minsk von den Einsatzkräften des Innenministeriums festgenommen. Zurzeit befinde ich mich im Gefängnis Nr. 1. Hiermit erkläre ich, dass ich keine Probleme mit der Gesundheit, mit dem Herzen oder anderen Organen habe. Ich werde gut behandelt und es erfolgt alles nach Gesetzen. Ich arbeite mit den Ermittlungskräften zusammen und mache Angaben über die Organisation der Massenunruhen in Minsk.“

Die belarussischen Behörden hatten am Sonntag ein Ryanair-Flugzeug auf dem Weg von Griechenland nach Litauen, in dem sich auch der regimekritische Blogger und Gegner des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko befand, mit Hilfe eines Kampfjets und unter dem Vorwand einer Bombendrohung, zur Landung in Minsk gezwungen. Protassewitsch wurde kurz darauf in Minsk festgenommen. Die Maschine flog später weiter nach Vilnius.

Als der Kampfjet, eine sowjetische MiG-29, neben dem Ryanair-Flugzeug auftauchte und der Pilot des Passagierflugzeuges die Durchsage machte, dass man in Minsk zwischen landen muss, dürfte es Roman Protassewitsch bereits gewusst haben: Das alles passiert seinetwegen.

„Ich bin der Grund für das, was hier passiert“

In verschiedenen Medien berichteten andere Fluggäste von den Momenten vor der Verhaftung des Bloggers. Laptop und Handy soll er seiner Begleiterin überreicht haben. Er wirkte aufgeregt, ängstlich und auch traurig berichten einige. Er soll gesagt haben, dass ihm in Minsk der Tod drohe.

In Minsk zur Landung gezwungen, durchsuchten Polizisten das Gepäck der Passagiere noch auf dem Rollfeld – Spürhunde waren im Einsatz. Roman Protassewitsch und seine 23-jährige Freundin Sofia Sapega, wurden festgenommen. Sapega soll inzwischen in einem Minsker Gefängnis sitzen.

Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, habe Protassewitsch schon vor dem Abflug aus Athen eine Vorahnung gehabt, dass etwas nicht stimmte. Bevor er in das Flugzeug stieg, schrieb er einem Freund via Telegram: „Lol, am Flughafen wurde ich vom Geheimdienst beobachtet.“ Ein Mann, mittleres Alter, mit Glatze und Lederkoffer, habe ihm blöde Fragen auf Russisch gestellt. Dann habe der Mann versucht, seinen Pass zu fotografieren. Kurz vor der Passkontrolle sei er verschwunden.

Ein Passagier berichtet später dem litauischen TV-Sender LRT, dass der Blogger seinen Mundschutz nach der Landung in Minsk abgenommen haben soll und gesagt habe: „Ich bin der Grund für das, was hier passiert.“

Das Video, das dieser Tage für Aufsehen sorgt, ist das erste Lebenszeichen des 26-Jährigen nach seiner Festnahme. 24 Stunden lang hatte man nichts von ihm gehört. Veröffentlicht wurde das Video in einem regierungsnahen Nachrichtenkanal bei Telegram. Sichtlich gezeichnet, bringt der Blogger vor einer Wand mit weißen Paneelen und Holzvertäfelung eine Art Geständnis über die Lippen.

Vater von Protassewitsch ist von Zwang überzeugt

Der Vater des Bloggers, Dmitri Protassewitsch, glaubt in keiner der knapp 30 Sekunden des Videos, dass sein Sohn dort aus freien Stücken spricht. Er glaube, dass sein Sohn zu einem Schuldeingeständnis durch Anwendung von Gewalt gezwungen worden sei. „Es ist möglich, dass seine Nase gebrochen ist“, sagte er.

Die Form der Nase sei anders, stellt der Vater fest. „Und es ist eine Menge Make-up Puder darauf.“ Vergleicht man Fotos des 26-Jährigen vor der Festnahme mit der Video-Aufnahme, ist durchaus ein Knick im Nasenbein zu erkennen. „Die ganze linke Seite seines Gesichts ist abgepudert“, sagte Dmitri Protassewitsch in einem Interview, das er am späten Montag der Nachrichtenagentur Reuters gab. Unverkennbar ist auch eine Art Schramme an der Stirn, eine dunkle Verfärbung.

Die Zigaretten auf dem Tisch – „die raucht er nicht“

Und der Vater ist überzeugt: „Es sind nicht seine Worte, es ist nicht seine Art wie er spricht. Er verhält sich sehr reserviert und man kann sehen, dass er nervös ist.“

Es sei auch nicht seine Zigarettenschachtel auf dem Tisch – „die raucht er nicht.“ Er glaube, sein Sohn wurde gezwungen. „Er kann nicht zugeben, dass er die Massenunruhen verursacht hat, weil er so etwas einfach nicht getan hat.“

Körpersprachenexperte Stefan Verra zum Video

Stefan Verra, Körpersprache-Experte, sieht zwei auffallende Elemente in dem veröffentlichten Video in der Körpersprache des Regierungskritikers: „Auffällig ist zum einen das einigermaßen rhythmische auf und ab bewegen der Augenlider, der Hände und auch des Kopfes. Zum anderen sind die Bewegungen eng und angespannt. Zudem verschließt er seine Finger und führt die Lippen recht eng“, sagte Verra dem Tagesspiegel. Aus diesen Eigenschaften entstehe der Eindruck von innerer Anspannung.

„Wir machen solche angespannten rhythmischen Bewegungen, wenn wir etwas auswendig runterbeten oder versuchen fehlerfrei abzulesen“, erklärte er. „Aber Achtung vor Wunschdenken: Selbst wenn wir Signale wie Anspannung und häufiges Blinzeln erkennen, ist es wissenschaftlich nicht begründbar, das mit Unwahrheit seiner Worte zu verknüpfen.“

Und noch etwas sei bemerkenswert: „die fein säuberlich hingelegten Zigaretten und Anzünder. Zufall? Oder will man hier eine entspannte Atmosphäre suggerieren“, gab der Experte zu bedenken.

[Mehr zum Thema: Angstgegner des Präsidenten – Wer ist der Mann, für den Lukaschenko ein Flugzeug kapern ließ? (T+)].

Wurde der festgenommene Blogger von belarussischen Behörden gefoltert? Nach Sichtung des Videos liegt der Anschein Nahe. Durchschimmernde blaue Flecken über seinem rechten Auge, die schief anmutende Nase, die Worte des Bloggers und die Unsicherheit, die er ausstrahlt – all das lässt auch die belarussische Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja Folter und Zwang vermuten.

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Die internationale Gemeinschaft müsse nun über gemeinsame Schritte diskutieren, „um die Täter vor Gericht zu stellen“, schrieb sie am Dienstag im Nachrichtenkanal Telegram. Zugleich forderte sie die sofortige Freilassung des 26-Jährigen und auch anderer politischer Gefangener in Belarus. Tichanowskaja lebt in Litauen im Exil.

Protassewitsch habe nie vorgehabt, die erhobenen Anklagen zu gestehen

Die Oppositionelle rief zudem die USA nach einem Telefonat mit Präsident Joe Bidens Nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan auf, eine Untersuchung wegen Flugzeugentführung und der Festnahme von Protassewitsch einzuleiten. Sie verwies auf das Vorgehen der autoritären Führung in Minsk gegen unabhängige Medien. „All das ist Ergebnis der Straflosigkeit des Regimes und des Fehlens einer entschiedenen Reaktion der internationalen Gemeinschaft.“

Journalisten:innen, die den 26-Jährigen kennen, gaben an, Protassewitsch habe nie vorgehabt, die gegen ihn erhobenen Anklagen zu gestehen. Auch sie glauben, er stehe in dem Video unter Zwang.

SPD-Außenpolitiker Nils Schmid sieht in der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine die Handschrift einer russischen Spezialoperation. Im Deutschlandfunk sagte der Bundestagsabgeordnete am Dienstag: „Ich gehe davon aus, dass eine solche Operation nur möglich war in einer engen Zusammenarbeit mit russischen Sicherheitskräften.“

Regimekritischen Blogger droht Todesstrafe

Gerade der belarussische KGB und die russischen Geheimdienste arbeiteten sehr eng zusammen. Deshalb sei aus seiner Sicht klar, dass das Belarus nicht allein durchgeführt haben kann, sagte Schmid.

In Belarus wurde der Name Protassewitsch vom KGB auf eine Liste von Terroristen gesetzt. Wenn er wegen Terrorismus angeklagt und verurteilt wird, könnte ihm die Todesstrafe drohen. Die Anklage wegen Anstiftung zu öffentlicher Unordnung und sozialem Hass wird mit einer Freiheitsstrafe von mehr als 12 Jahren bestraft.

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