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Die SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles

© dpa/Carsten Koall

Krise der Sozialdemokraten: Merkels Entscheidung bringt SPD nur wenig Entlastung

Nach der Hessen-Niederlage stand Andrea Nahles massiv unter Druck. Merkels Verzicht auf den Parteivorsitz nimmt etwas davon. Unklar ist nur: Wie lange?

Von Hans Monath

Es ist den Sozialdemokraten nicht oft passiert in den vergangenen Monaten, dass ihre Beschäftigung mit der eigenen Misere überschattet wurde von noch dramatischeren Ereignissen beim Koalitionspartner. Denn in der Kunst der Selbstzerfleischung macht den deutschen Sozialdemokraten so schnell keiner etwas vor. Am Montag aber geschah etwas Ungewöhnliches im Willy-Brandt-Haus.

Gleich zwei Pressekonferenzen gab Parteichefin Andrea Nahles an diesem Tag – eine vor den Sitzungen von Präsidium und Vorstand, eine danach. Und schon in die erste platzte die Nachricht vom Verzicht Angela Merkels auf den CDU-Vorsitz. Doch Nahles, die von Merkel über ihren Schritt unterrichtet worden war, wollte das aufziehende Ereignis nicht öffentlich kommentieren, solange die CDU noch tagte. Selbst eine dringende Nachfrage der Journalisten konnte sie nicht dazu bewegen.

Die Eilnachrichten aus dem Konrad-Adenauer-Haus bedeuteten vor allem eines für Nahles und die Führungsmannschaft der SPD: Entlastung von massivem Druck nach dem Hessen-Desaster. Entlastung zumindest für ein paar Tage, wie ein Vorstandmitglied meinte. Denn die SPD droht zu verzweifeln an ihren Misserfolgen, verlangt vom Führungsduo Nahles und Olaf Scholz eine spürbare Reaktion auf die bislang ungebremste Umfragetalfahrt der Bundespartei, auf den Absturz auf weniger als zehn Prozent in Bayern und die Abstrafung in Hessen. Der Negativtrend schmerzt die Sozialdemokratie umso mehr, als ihre zählbaren Erfolge in der großen Koalition einfach unbeachtet bleiben. Den meisten Genossen schwant jedenfalls: Das Rezept von solidem Regieren und einer parallelen Erneuerung der Partei, mit dem Nahles einst angetreten war, ist gescheitert.

Frau Nahles erinnert an die Frau, die aus dem Hochhausfenster springt und bei jedem passierten Stockwerk auf dem Weg zum Boden meint: "Bislang ist es noch immer gut gegangen".

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Auch deshalb hatte die Parteichefin schon am Abend der Hessen-Niederlage verkündet, sie wolle nun einen Fahrplan für Regierungsprojekte, eine Abmachung mit der Union über einen neuen Stil in der Koalition sowie eine rasante Beschleunigung des Klärungsprozesses, für welche Inhalte die SPD eigentlich steht. Für die inhaltliche Reform der SPD hatte sich Nahles eigentlich bis Ende 2019 Zeit nehmen wollen; nun sollen die strittigen Fragen schon kurz nach dem Jahreswechsel geklärt sein. Mit ihrem Paket wollte Nahles vor allem den immer lauter werdenden Rufen aus der eigenen Partei nach der sofortigen Aufkündigung der großen Koalition etwas entgegensetzen – und damit Zeit gewinnen.

Eine Lektion für die Vorsitzende?

Vor den Gremiensitzungen trat die Parteichefin gemeinsam mit dem hessischen Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel vor die Mikrofone. Beide lieferten eine denkwürdige Vorstellung. Denn ausgerechnet der nun auch im dritten Anlauf gescheiterte Wahlkämpfer argumentierte schärfer und präziser als Nahles und vermittelte den Eindruck, dass er die Zukunft der Bundespartei weiter entscheidend mitgestalten will. Die wichtigste Frage sei, "wie wir mit der Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise umgehen", erklärte er und empfahl – "egal, ob wir regieren oder nicht" – sein hessisches Modell für den Bund: "Lebensfroh, gut gelaunt auf die Zukunftsfragen Antworten zu geben." Trotz des pflichtschuldigen Dankes an Nahles für Unterstützung im Wahlkampf klang das wie eine Lektion für die Vorsitzende, an deren Fähigkeit zur Selbstkritik manche in der Partei immer stärker zweifeln.

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Zwar verlangte eine Gruppe um die Flensburger Bürgermeisterin Simone Lange, den Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und den früheren Sozialpolitiker Rudolf Dreßler in einer Presseerklärung einen radikalen Neuanfang, einen Sonderparteitag und "den Rücktritt der SPD-Führungsspitze". Doch im Vorstand fand kein Scherbengericht statt, wie ein Mitglied danach meinte, "nicht einmal ansatzweise" sei es zu einer Personaldebatte gekommen. Insofern durfte sich Nahles bestätigt fühlen, die schon am Morgen etwas gewunden gesagt hatte: "Eine personelle Neuaufstellung ist nicht in Rede in der SPD."

Das Papier des Präsidiums, das laut Nahles für das Parteiprofil "politische Richtungsentscheidungen markiert", verabschiedete der Vorstand am Montag noch nicht. Denn bis zur Klausur der Führungsgremien am kommenden Sonntag und Montag soll es ergänzt oder neu geordnet werden. Bislang geht es laut der Vorsitzenden um die Neuausrichtung des Sozialstaats, ein starkes Europa, den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und die Sicherung öffentlicher Mittel um den „Investitionsstau“ aufzulösen. Bis zur Jahresauftaktklausur im Januar 2019 sollen strittige Fragen nun geklärt werden – notfalls mit Mehrheitsbeschluss, kündigte die Vorsitzende an.

Auch an die Union, und damit auch eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger Merkels an der CDU-Spitze, hat die SPD Forderungen. Die Parteichefin wurde beauftragt, mit CDU und CSU darüber zu verhandeln, wie künftig zermürbende, für alle schädliche Auseinandersetzungen vermieden werden können und die drei Partner "vertrauensvoll und verlässlich zusammenarbeiten" (Nahles). Auch einen "präzisen Arbeitsplan" der Koalition bis zur verabredeten Halbzeitbilanz 2019 verlangen die Sozialdemokraten. Das Papier des Präsidiums listet mehrere Sozialgesetze wie eine bessere Kita-Betreuung, eine Grundrente und die Einschränkung von befristeten Arbeitsverträgen auf. Die Parteichefin sagte, es fehle ihr die Fantasie, "dass wir uns da nicht auf etwas Vernünftiges einigen. Das ist im Interesse aller drei Parteien."

Das hohe Tempo bei der inhaltlichen Erneuerung begründete Nahles mit einem Satz, der an Oskar Lafontaine erinnert: "Wer selbst mit sich im Reinen ist, kann auch besser überzeugen." Der damalige SPD-Politiker hatte seinen Putsch gegen Rudolf Scharping 1995 mit den Worten begründet: "Wenn wir selbst begeistert sind, können wir andere begeistern." Aber bis zur Begeisterung an sich selbst ist es für die SPD wohl noch ein langer Weg.

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