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Frauen lassen in einem Studio die Nägel machen.

© Sven Simon/Imago

Menschenhandel in Großbritannien: Leichenfund in Essex entfacht Debatte über moderne Sklaverei

Sie arbeiten in Nagelstudios, illegalen Cannabis-Plantagen - tausende Vietnamesen werden seit Jahren nach Großbritannien geschleust.

Während die Polizei in Großbritannien und anderen Ländern mit Nachdruck an der Aufklärung des Todes von 39 Menschen in einem Lkw-Auflieger arbeitet, ist in Großbritannien eine neue Debatte über moderne Sklaverei entbrannt. In dem Report "Precarious Journeys", der von mehreren Anti-Sklaverei-Organisationen mit Hilfe des britischen Innenministeriums erarbeitet wurde, wird deutlich, dass von 2009 bis 2018 mindestens 3187 Menschen aus Vietnam als potenzielle Schleuseropfer identifiziert wurden. Die Dunkelziffer liegt nach Einschätzung von Experten höher.

Vietnam gehört zu den Top 3 Ländern, aus denen Menschen nach Großbritannien geschleust werden

Die Menschen, sobald sie gegen die Zahlung von vielen Tausend Pfund und unter oft falschen Versprechungen ins Land geholt wurden, müssen in Cannabis-Plantagen, Autowaschanlagen oder in Nagelstudios arbeiten; einige werden auch zur Prostitution gezwungen. Vietnam gehört zu den Top 3 der Länder, aus denen die Menschen nach Großbritannien geschleust werden.

Vietnam hat nach dem jüngsten Fall eine Untersuchung eingeleitet. "Man muss untersuchen und die Fälle herausfinden, in denen vietnamesische Bürger illegal in fremde Länder gebracht werden, und die Gesetzesverletzungen strikt ahnden", sagte Regierungschef Nguyen Xuan Phuc am Samstag.

Großbritannien hatte in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, seine Aktivitäten gegen moderne Schleuserei zu intensivieren. Zuletzt wurde 2015 mit dem Modern Slavery Act ein Gesetz geschaffen, mit dem die Hürden für die Beschäftigung von Menschen aus bestimmten Ländern erhöht wurden. Kritiker klagen, das Gesetz sehe zu wenig Opferschutz vor und konzentriere sich zu stark auf polizeiliche Maßnahmen.

In dem Report "Precarious Journeys" heißt es, da die eingeschleusten Menschen wüssten, dass sie illegal in Großbritannien seien, hätten sie Angst vor der Polizei und es sei extrem unwahrscheinlich, dass sie ihre desperate Lage meldeten, schreibt der britische "Guardian". Manche würden vielleicht nicht einmal erkennen, dass sie Opfer von Menschenhandel seien, da sie selbst entschieden hätten, nach Großbritannien zu reisen und Schleuser dafür bezahlten, den Trip zu organisieren und einen Job für sie zu finden. Die Kosten für einen Reise liegen dem Bericht zufolge zwischen umgerechnet 9000 und 36.000 Euro.

Polizei und Behörden seien nicht ausgebildet, um Opfer von Menschenhandel zu erkennen

Das Blatt zitiert Debbie Beadle, Direkt der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung (Ecpat) und Co-Autor einer Studie über Menschenhandel aus Vietnam: "Die eingeleiteten Maßnahmen haben sich noch nicht ausgewirkt. Noch immer sind viele Polizeieinheiten und Behörden nicht ausgebildet oder ausgestattet, um Opfer von Menschenhandel zu erkennen."

Über das Wochenende waren über britische Medien erschütternde Einzelheiten von möglichen Betroffenen des jüngsten Falles bekanntgeworden, bei dem 39 Menschen ums Leben gekommen waren. Eine junge Frau soll sich demnach schon sterbend aus dem Lastwagen an ihre Eltern in Vietnam gewandt haben. „Ich kann nicht atmen, ich werde sterben“, heißt es in den SMS-Nachrichten, die der BBC vorliegen. „Meine Reise in ein fremdes Land ist schiefgelaufen.“ Ob die betreffende Frau tatsächlich eines der 39 Opfer ist, war am Sonntag offiziell nicht bestätigt.

Am Samstag sagte ein 57-Jähriger Vietnamese der Deutschen Presse-Agentur in Hanoi, sein Sohn sei 2017 nach Frankreich ausgewandert und habe ihn informiert, dass er als Teil einer Gruppe nach Großbritannien geschmuggelt werden solle. Der Vater sagte, er habe einen Anruf bekommen und sei über die Todesfälle informiert worden.

Er sei aber nicht sicher gewesen, wer der Anrufer überhaupt war und ob es sich um einen Schleuser gehandelt habe. Er habe nun kaum noch Hoffnung, dass sein Sohn am Leben sei. „Ich bin sicher, dass er tot ist, aber ich versuche, das eine Prozent an Hoffnung zu behalten, dass er noch lebt“, sagte der Mann über seinen Sohn.

Noch sind die Toten aus dem Lkw nicht identifiziert

Die Polizei in der Grafschaft Essex arbeitet fieberhaft an der Identifizierung der Leichen und konzentriert sich derzeit auf Vietnam als Herkunftsland. Der Kontakt mit der vietnamesischen Botschaft in London sei eng, sagte Martin Passmore, der bei der Polizei für die Identifizierung zuständig ist. Zunächst hatte die Polizei angenommen, es handele sich bei den Toten um Chinesen.

Unterdessen wurde ein Mann in Irland festgenommen, der in Verbindung mit dem Verbrechen stehen könnte. Der Mann sei wegen einer anderen Straftat gesucht worden, die Polizei in Essex habe jedoch Interesse bekundet, ihn zu befragen, teilte die irische Polizei in Dublin mit.

Grays liegt wenige Kilometer östlich von London.
Grays liegt wenige Kilometer östlich von London.

© von Google Maps

Zuvor waren schon drei weitere Männer und eine Frau in Großbritannien festgenommen worden, darunter der Fahrer des Lastwagens. Die 38 Jahre alte Frau und ihr gleichaltriger Ehemann wurden am Sonntag gegen Kaution wieder auf freiem Fuß gesetzt. Gegen den 25 Jahre alten Fahrer aus Nordirland wurde am Samstag Anklage erhoben, unter anderem wegen Totschlags in 39 Fällen sowie Beteiligung an Menschenhandel und Geldwäsche. Er muss am Montag erstmals vor Gericht erscheinen.

Die Identifizierung der Leichen wird der Polizei zufolge möglicherweise dadurch erschwert, dass Verwandte der Opfer selbst illegal in Großbritannien leben und Angst haben, sich bei der Polizei zu melden. Passmore sicherte deshalb zu, seine Behörde werde niemanden verfolgen, der sich in dem Fall an die Polizei wende.

Noch immer ist unklar, wann und wo die Menschen in den Lkw gelangten

Die Zugmaschine des Lastwagens, in dem die Leichen östlich von London in dem Ort Grays (Grafschaft Essex) gefunden worden waren, war aus Irland gekommen; der Auflieger kam über den belgischen Hafen Zeebrugge nach England - per Schiff wurde er von Belgien in den Hafen Purfleet gebracht. Auch Tage nach dem grausigen Fund in der Nacht zum Mittwoch war unklar, wann und wo die Menschen in den Lkw gelangten.

In Sozialen Medien kursierten zahlreiche Informationen darüber, wie sich die Tragödie zugetragen haben könnte. Unter anderem hieß es, der Lastwagen mit den 39 Menschen sei von Frankreich aus über Belgien nach Großbritannien gelangt. Diese Informationen waren aber zunächst nicht zu verifizieren. Die Leichen waren in der Nacht zum Mittwoch im Laderaum des Lastwagens im Ort Grays entdeckt worden. Die Umstände deuten stark darauf hin, dass es sich bei den Opfern um ins Land geschleuste Migranten handelt. (dpa, lem)

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