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Die britische Premierministerin Theresa May an der Tür zur Downing Street Nummer 10.

© AFP/Daniel Leal-Olivas

Regierungskrise in Großbritannien: Das Chaos als Chance für Theresa May

Skandale, Rücktritte, Fehltritte: Im britischen Kabinett geht es drunter und drüber. Der angeschlagenen Premierministerin könnte das aber nutzen. Eine Analyse.

Chaos in Westminster. Im britischen Kabinett geht es drunter und drüber. Verteidigungsminister Michael Fallon geht, weil er vor 15 Jahren einer Journalistin ans Knie gefasst hat. Weitere Konservative müssen sich ebenfalls gegen Belästigungsvorwürfe wehren. Einem engen Vertrauten der Premierministerin im Kabinett wird vorgehalten, er habe Pornos auf dem Dienstcomputer gespeichert. Entwicklungshilfeministerin Priti Patel tritt zurück, weil sie ohne Absprache Nebenaußenpolitik in Israel machte und dabei Regeln der britischen Nahostpolitik ignorierte.

Und wann fällt Theresa May?

Wann kippt die von einer nordirischen Splitterpartei getragene Minderheitsregierung der Konservativen? Wählen die Briten demnächst, zum dritten Mal binnen zweieinhalb Jahren, ein neues Unterhaus? Wer die Nachrichten aus London in den vergangenen Wochen verfolgt hat, kann leicht zu dem Eindruck kommen, dass eine verantwortungslose Regierungspartei in einer entscheidenden Phase der Geschichte des Landes (und Europas) zu nichts anderem fähig ist als zu frivolen Skandalgeschichten und mickrigen Kabinettskonflikten.

Politisches Treibgut

Man muss das aktuelle Westminster- Chaos aber nicht überbewerten. Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 wirkt die Insel zwar wie politisches Treibgut. Doch der Zustand könnte sich bald ändern. Es könnten aus den Aufregungen und Wirbeln der letzten Wochen wieder ruhigere Zustände erwachsen. May, die seit der missratenen vorgezogenen Unterhauswahl im Juni angeschlagen und beim Parteitag im Oktober vor allem mit ihrem unglücklichen Redeauftritt auffiel, scheint langsam ihre Position wieder zu konsolidieren.

Den Abgang der beiden Minister hat der Flügel der Brexit-Hardliner ohne größeres Aufbegehren geschluckt, obwohl vor allem Patel zu deren Köpfen gehört. May ersetzte Fallon mit einem eigenen Vertrauten, den bisherigen Fraktionsgeschäftsführer Gavin Williamson, und Patel durch die in der Partei als solide Jungpolitikerin angesehene Penny Mordaunt. Bisher hat May die Kabinettskrise meistern können, weitere Umbesetzungen im Kabinett könnten folgen, und dann hätte die Regierungschefin deutlich gemacht, dass sie das Szepter noch in der Hand hält.

Was der Premierministerin derzeit zudem hilft, ist die prekäre Situation des Ober-Brexiters im Außenministerium. Boris Johnson hat sich selbst in einer Weise geschwächt, dass sich niemand wundern müsste, wenn er demnächst kippt. Er hat durch überflüssige Worte die Lage einer in Iran inhaftierten Britin verschlimmert – es ist ein Fall ähnlich wie der von Peter Steudtner in der Türkei. Die Strafe der Frau könnte nun wegen Johnsons Aussage erhöht werden. Sollte es so kommen, wäre seine politische Karriere beendet.

Gerade neu bei Madame Tussauds: Die Wachsfiguren von Theresa May und Boris Johnson.
Gerade neu bei Madame Tussauds: Die Wachsfiguren von Theresa May und Boris Johnson.

© Reuters/Dylan Martinez

Aber auch ohne diesen "worst case" hat er endgültig bewiesen, dass er nicht zum obersten Diplomaten eines Landes taugt, das nach seinem EU-Austritt vor allem auf seine Außenbeziehungen achten muss. Johnson ist als Konkurrent für das Amt des Premiers faktisch ausgeschieden. In der weiteren Riege der Brexit-Hardliner aber gibt es niemanden, der May gefährden könnte.

Ernüchterung im Brexit-Lager

Zudem merken die Austrittsbefürworter immer mehr, dass Euphorie nur ein vorübergehender Glückszustand ist. Die Vorstellung, das von Brüsseler Zwängen befreite und in allen Handelsdingen freie Großbritannien werde künftig ungehemmt zwischen den unbeweglichen Dickschiffen EU, USA und China schlau und wendig seinen globalen Kurs steuern und es werde immenser Wohlstand auf die Insel herabregnen, erweisen sich als Illusion. Dass man die künftige Partnerschaft mit der EU nicht selber in London definiert, sondern dass sie von den 27 Ex-Partnern in Brüssel bestimmt wird, dämmert nun auch der Tory-Fraktion im Unterhaus.

Der knochentrockene Satz des US-Wirtschaftsimperialisten Wilbur Ross, Handelsminister von Donald Trump, dass die Briten sich nun entscheiden müssten zwischen dem europäischen Wirtschaftsmodell oder dem amerikanischen, zwischen stärkerer Regulierung hier und offener Deregulierung dort, dürfte auch einigen der marktliberalen Brexit-Konservativen unangenehm aufgestoßen sein. Denn Trumpamerika ist auch nicht ganz nach ihrem Freihändlergeschmack.

Und noch ein Mann hilft May: Labour-Chef Jeremy Corbyn. Der Altsozialist ist das Schreckgespenst der Tories. Seine Regierungsübernahme, das ist Parteiräson, muss verhindert werden. Da die Umfragen ein Patt verzeichnen, wäre ein Sieg Corbyns derzeit nicht auszuschließen. Zudem würde auch der Labour-Chef Großbritannien aus der EU führen, und diesen Erfolg (aus britischer Sicht) gönnen sie ihm schon gar nicht. Neuwahlen gibt es damit nicht.

An Erfahrung gewonnen?

So ist die Premierministerin in einer stärkeren Position, als man angesichts der ganzen Westminster-Querelen glauben könnte. Und nach den vielen Fehlern in ihrem ersten Amtsjahr, gipfelnd in der Fehlkalkulation mit der vorgezogenen Wahl, sollte man annehmen, dass May nun genügend Erfahrung hat, um einigermaßen solide weiterregieren zu können. Zwar ist ihr auch der als wichtiges Signal nach innen und außen gedachte Auftritt in Florenz im September nicht wirklich geglückt. Aber die Rede dort kann man als Startpunkt verstehen, von dem aus May ihr Land tatsächlich in eine vernünftige Partnerschaft mit Europa bugsieren kann.

Von daher dürfte sie auch für die Millionenschaft jener britischen EU-Anhänger, welche die Brexit-Entscheidung nolens volens akzeptiert hat, eine akzeptable Regierungschefin sein. Und eine realistische Verhandlungspartnerin in Brüssel. Für die EU wäre das nicht die schlechteste Aussicht. May wirkt wie die Vernünftigste auf einem Schiff voller Narren.

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