zum Hauptinhalt
Afghanische Sicherheitskräfte nach einem Bombenanschlag der Taliban in Kabul.

© Wakil Kohsar/AFP

Terrorismus: Vom nahezu wahllosen Morden in Afghanistan

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Afghanistan haben ein Rekordniveau erreicht – zum Leid der Zivilbevölkerung. Ein Gastbeitrag.

Drei große Anschläge in Afghanistan binnen einer Woche, zwei davon in der Hauptstadt Kabul. Acht mit insgesamt mindestens 219 Toten landesweit seit dem 28. Dezember. Die Taliban und örtliche Ableger des Islamischen Staates (IS) teilen sich in die Verantwortung.

Und doch sind diese Anschläge nur die Spitze des Eisberges. Ausschnitte der Gewalt, die sich im Afghanistan-Krieg beinahe täglich abspielt. Am Tage des jüngsten Taliban-Anschlags vor dem Kabuler Jumhuriat-Krankenhaus, wo Personal und Patienten unter den Opfern sind, wurde in mindestens sieben weiteren Provinzen gekämpft. Außerdem kam es in Kandahar zu einem weiteren Anschlag mit vier Toten und zwölf Verletzten. Eine Woche zuvor, während Talibankämpfer in einem Kabuler Hotel IT-Spezialisten der Regierung massakrierten und Jagd auf Ausländer machten, wurde ebenfalls in sieben Provinzen gekämpft. Darunter war Kundus, der ehemalige Hauptstandort der Bundeswehr, wo wieder Häuser von Zivilisten zerstört und Familien in die Flucht getrieben wurden. Nichts davon schaffte es in europäische Medien.

Zahl der Zivilopfer durch Luftangriffe steigt

Beide Seiten eskalieren ihr Vorgehen. Die Taliban verwendeten bei ihrem jüngsten Anschlag einen Krankenwagen als Autobombe, ein klares Kriegsverbrechen. Die Taliban versuchen nach wie vor, sogenannte hochwertige Ziele – Regierungsstellen und ausländische Einrichtungen – anzugreifen, nehmen aber keine Rücksicht auf Menschen, die sich in der Nähe aufhalten. Dadurch sind die übergroße Mehrzahl der Opfer solcher Anschläge afghanische Zivilisten. Die IS-Gruppen morden fast unterschiedslos: Zwar sind Schiiten und Ausländer bevorzugte Ziele, aber jeder Afghane, der irgendwie mit der Regierung zu tun hat oder und sich ihnen nicht unterordnen will, ist ein potenzielles Ziel. Zudem kämpfen Taliban und IS gegeneinander, wobei die Taliban fast überall die Oberhand behalten haben.

Auch das afghanische und das US-Militär haben, wie es dort gern formuliert wird, die Glacéhandschuhe abgestreift. Schon in den letzten Obama-Monaten, aber noch mehr unter Trump stieg die Zahl der Luftangriffe und der dadurch verursachten Zivilopfer steil an. Zudem wird das in konkreten Fällen wieder öfter abgestritten. In den Augen vieler Afghanen wird dadurch unglaubwürdig, wenn westliche Regierungen Terroranschläge verurteilen. In sozialen Medien ist der Hashtag #AfghanLivesMatter aufgetaucht.

Taliban kontrollieren mehr Territorien als je zuvor seit 2001

Auch wenn diese Taliban-Anschlagswelle ein neues Hoch darstellt, präzedenzlos ist sie nicht. Präzedenzlos ist aber das Niveau der landesweiten Gewalt. Die fünf wichtigsten Indikatoren dafür standen 2017 auf Rekordniveau: die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle – von Entführungen bis zu Gefechten –, der Zivilopfer und der Verluste bei den afghanischen Streitkräften. Die Taliban kontrollieren mehr Territorium als je zuvor nach dem Sturz ihres Regimes in 2001. Die Zahl der vom Krieg neu Vertriebenen lag im Vorjahr zwar unter dem Rekord von 2016, aber da immer mehr Menschen nicht mehr an ihre Wohnorte zurückkehren können, steigt auch die Gesamtzahl der Binnenflüchtlinge weiter an. Schließlich stufte die UN voriges Jahr Afghanistan von einem Post-Konflikt- in ein „Land im Konflikt“ hoch – zu spät, aber immerhin.

Da der Afghanistan-Krieg überwiegend Guerilla-Charakters trägt, lässt sich auch nicht voraussagen, wann und wo Kämpfe ausbrechen oder sich Anschläge ereignen könnten. Das gibt eigentlich auch die Bundesregierung zu, wenn sie in ihren Lageeinschätzungen das schöne aber schreckliche Fremdwort „volatil“ (explosiv) anwendet. Aber sie weigert sich, daraus die richtige Konsequenz zu ziehen, nämlich dass ihre Behauptung, in Afghanistan gebe es hinreichend sichere Gebiete, nicht der Realität entspricht. Das aber würde ihre rein innenpolitisch begründete Entscheidung konterkarieren, dass abgelehnte afghanische Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben werden können, koste es diese, was es wolle. 174 waren es seit Dezember 2016. Weiteres Schicksal? Der Bundesregierung unbekannt. Nur ein paar Aktivisten, Anwälte und frühere Gastfamilien halten Kontakt zu einigen von ihnen.

Der Autor ist Mitbegründer und Ko-Direktor des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network mit Sitz in Kabul und Berlin.

Thomas Ruttig

Zur Startseite