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Eine Legende in der US-Justiz: Ruth Bader Ginsburg

© Reuters/Jim Young

Update

Tod von Richterin Ruth Bader Ginsburg: Washington trauert um die liberale Ikone – und kämpft um ihr Erbe

Ruth Bader Ginsburg wollte verhindern, dass Donald Trump einen weiteren Obersten Richter ernennen kann. Mit ihrem Tod fürchten viele, dass es nun so kommt.

Diese Nachricht ist die eine Nachricht, die sie alle hier gefürchtet haben. Nicht, dass 2020 bislang ein besonders freundliches Jahr gewesen ist. Aber es kann offenbar immer noch schlimmer kommen. Hunderte sitzen und stehen vor dem Supreme Court in Washington - junge Frauen und Männer, Weiße, Schwarze, Hispanics, Schwule, Heteros - und versuchen zu verarbeiten, was sie gerade erst erfahren haben.

Ruth Bader Ginsburg ist tot. Die Vorkämpferin für Gleichberechtigung, die Supreme-Court-Richterin, die 87-jährige zähe kleine Frau mit dem verschmitzten Lächeln, die dem Krebs eins ums andere Mal ein Schnippchen geschlagen hat. Die unbedingt noch bis zur Präsidentschaftswahl am 3.November durchhalten wollte. Sie wusste, worum es geht. Nun hat sie es doch nicht geschafft.

Als am Freitagabend kurz vor 20 Uhr die Eilmeldungen von ihrem Tod auf den Smartphones aufploppen, haben sich die Washingtoner bereits aufs Wochenende eingestellt. Die Outdoor-Flächen der Restaurants und Bars sind bis zum letzten Platz gefüllt, noch sind die Temperaturen ja angenehm.

Sie singen "Amazing Grace"

Dann verbreitet sich die Nachricht rasend schnell, irgendwer postet ein Video auf Twitter, vom Supreme Court und Menschen, die sich auf den weißen Marmorstufen spontan zusammengefunden haben. Immer mehr strömen dort hin, sie bringen Blumen mit, und Kerzen. Am Ende werden es Hunderte sein, die bis weit nach Mitternacht zwischen den auf Halbmast hängenden Flaggen vor dem Gerichtsgebäude ausharren.

Es gibt kein geplantes Programm, alles ist spontan und sehr ruhig. Alle sind da, um einem Idol zu huldigen. Eine kleine Gruppe junger Frauen singt im Dunkeln: "This Land Is Your Land", Woody Guthries Hymne der amerikanischen Friedensbewegung, als nächstes "Imagine" von John Lennon, da stimmen andere mit ein.

Und dann singen sie "Amazing Grace", die inoffizielle Nationalhymne der Vereinigten Staaten. Die Kerzen in ihren Händen erleuchten ihre Gesichter.

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Am Fuß der Stufen schwenken zwei junge Männer Regenbogenfahnen. Ganz oben steht ein Mann zwischen den Säulen und hält ein großes Schild in die Höhe, auf dem nur "Notorious" steht.

Ruth Bader Ginsburg, Spitzname "Notorious RBG" (berüchtigte RBG), ab 1993 Richterin am Obersten Gerichtshof, wurde in Amerikas liberaler Hauptstadt verehrt wie noch kein Richter zuvor. Überall in der Stadt kann man ihr Gesicht sehen und den markanten Spitzenkragen, als großes Wandgemälde, auf Kaffeetassen oder Werbebannern.

Ihren Spitznamen verdankt sie dem Blog einer Jurastudentin, die beeindruckt war von den unerschrockenen Gutachten, mit denen Ginsburg regelmäßig ihre Minderheitenmeinung in dem zunehmend konservativen Gericht für die Öffentlichkeit festhielt.

Trauer um Ruth Bader Ginsburg vor dem Supreme Court
Trauer um Ruth Bader Ginsburg vor dem Supreme Court

© Reuters/Al Drago

Ein Vorbild vor allem für junge Frauen

RBG war vor allem für junge Frauen ein Vorbild, weil sie Zeit ihre Lebens infrage stellte, warum sie weniger Chancen bekommen sollte als ein Mann. Mit dem Wahlsieg von Donald Trump 2016 wurde die liberale Richterin auch zu einer Instanz gegen einen weiteren Rechtsruck des Obersten Gerichts.

Supreme-Court-Richter werden auf Vorschlag des jeweiligen US-Präsidenten vom Senat auf Lebenszeit gewählt. Hören sie nicht selbst auf, gibt es kaum Wege, sie aus dem Amt zu bringen.

RBG wurde 1993 vom damaligen Präsidenten Bill Clinton ernannt. Als Vertreterin des liberalen Flügels in dem neunköpfigen Gremium arbeitete sie daran mit, dass die Urteile des Obersten Gerichts immer wieder überraschend ausfielen. Erst im Juni stärkte das eigentlich mehrheitlich konservativ besetzte Gericht mit ihrer Stimme die Rechte von Homosexuellen, Bisexuellen und Transgender am Arbeitsplatz.

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Aber RBG war auch bereits seit Jahren an Krebs erkrankt, zuletzt kämpfte sie gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs. Stets war die Aufregung immens, wenn bekannt wurde, dass sie im Krankenhaus behandelt wurde. Die große Sorge war, dass die immer zerbrechlicher wirkende alte Dame ausscheiden und damit Trump zum dritten Mal in seiner Amtszeit die Möglichkeit geben könnte, einen Obersten Richter zu nominieren, nach Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh.

Es wäre Trumps Chance, die konservative Mehrheit an dem für das Zusammenleben der Amerikaner so wichtigen Gerichtshof auf Jahrzehnte zu zementieren. Ein Erfolg, den seine Anhänger sehnsüchtig herbeisehnen, etwa, um das Abtreibungsrecht zu verschärfen oder um sicherzustellen, dass keiner ihr durch den zweiten Verfassungszusatz gesichertes Recht, eine Waffe zu tragen, antasten kann.

RBG hat bis zum Schluss gearbeitet

Freiwillig ausgeschieden ist RBG nicht, bis zum Schluss hat sie gearbeitet. Ganz so, wie sie es angekündigt hat. Die eiserne Disziplin der gerade mal 1,55 Meter großen Frau war legendär. Videos von ihren Fitnessübungen mit ihrem Personal Trainer wurden regelmäßig zu Internethits. Nur im allergrößten Notfall verpasste sie eine Gerichtssitzung. Ihr letztes großes Ziel hat sie dennoch nicht erreicht. Ginsburgs Tod so knapp vor der Präsidentschaftswahl droht den gesamten Wahlkampf auf den Kopf zu stellen.

Der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, zeigt sich bereits kurz nach der Bekanntgabe ihres Todes entschlossen, trotz des nahenden Wahltermins über ihre Nachfolge abstimmen zu lassen. "Der von Präsident Trump nominierte Kandidat wird eine Abstimmung im Senat der Vereinigten Staaten bekommen", erklärt er. Die Republikaner halten in dieser Kongresskammer eine Mehrheit von 53 der 100 Sitze.

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Dabei waren es die Republikaner unter McConnells Führung, die nach dem Tod von Richter Antonin Scalia 2016 einen vom damaligen demokratischen Präsidenten Barack Obama nominierten Kandidaten im Senat blockierten - auch unter Hinweis auf die anstehende Präsidentenwahl.

In 45 Tagen wird gewählt, die Republikaner und ihr Präsident liegen derzeit in den Umfragen zurück. Trump soll bereits eine "Short List" mit Namen von ihm genehmen Kandidaten haben, worunter auch mindestens eine Frau sei, meldet die "New York Times". Diese Liste werde er "eher früher als später" präsentieren.

Der Präsident äußert sich erst nicht

Als die Nachricht von Ginsburgs Tod bekannt wird, steht der Präsident gerade an einem Podest in Bemidji/Minnesota und hält eine seiner ausufernden, polemischen Reden, die wahre Begeisterungsstürme bei seinen Fans auslösen. Angeblich hat ihn die Information zuvor nicht mehr erreicht. Anmerken lässt er sich zumindest nichts, auch wenn er kurz über die Bedeutung des Supreme Courts spricht. Aber das macht er eigentlich immer bei seinen Rallyes. Seine Anhänger lieben die Richterfrage, das weiß er.

Erst nach seiner Rede wird er von Journalisten darauf angesprochen und erklärt in einer ersten Reaktion lediglich, Ginsburg habe ein "beeindruckendes Leben" geführt.

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Kurz darauf verschickt das Weiße Haus eine Erklärung, in der Trump sie als "Titanin des Rechts" würdigt, die "alle Amerikaner und Generationen großartiger juristischer Denker inspiriert" habe. Zur Frage, ob er noch in seiner aktuellen Amtszeit, die bis zum 20. Januar läuft, oder gar vor der Präsidentschaftswahl am 3. November dem Senat einen Nachfolgekandidaten vorschlagen will, gibt es erstmals nichts. Allerdings hat er erst im August on einem Radiointerview gesagt, "ganz sicher" die Gelegenheit dazu zu ergreifen, falls sie sich ihm bietet.

Am Samstag twittert der US-Präsident dann unmissverständlich: Er sei dafür gewählt worden, wichtige Entscheidungen zu treffen. Und die wichtigste sei es, Richter für den Supreme Court auszuwählen. "Wir haben diese Verpflichtung, ohne Verzögerung."

Warnungen der Opposition

Die Opposition fürchtet genau das. In die Trauermitteilungen mischen sich Warnungen. Trumps Gegenkandidat Joe Biden versucht es mit dem Tweet: "Zweifellos sollten die Wähler den Präsidenten aussuchen, und der Präsident sollte den Richter dem Senat vorschlagen."

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Auch Ginsburg meldet sich quasi posthum zu Wort. Wie ihre Enkelin Clara Spera dem Rundfunksender NPR sagt, habe RBG kurz vor ihrem Tod erklärt: "Mein sehnlichster Wunsch ist, dass ich nicht ersetzt werde, bis ein neuer Präsident im Amt ist."

Wie sehr diese so wichtige Entscheidung die kommenden Wahlkampfwochen prägen wird, zeigt allein die Tatsache, dass die Diskussionen so schnell nach Ginsburgs Tod anheben.

RBG war eine von neun Jurastudentinnen - neben 500 Männern

Zoe Wadge macht das traurig, wie sie sagt. Die 24-Jährige aus North Carolina, die an der George-Washington-Universität Jura studiert, sitzt auf den weißen Stufen des Supreme Courts und schaut rüber zum Kongress, wo der Kampf bald beginnen wird.

Gekommen ist sie in dieser Nacht, weil ihr Verfassungsrecht wichtig sei, aber vor allem, um Ginsburg zu würdigen. "Sie hat uns Frauen vorgemacht, wie es geht."

RBG, 1933 als zweite Tochter eines jüdischen Paares unter dem Namen Joan Ruth Bader im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren, war eine von gerade mal neun Frauen, die neben rund 500 Männern an der Eliteuniversität Harvard Jura studierten.

Während einer Dinnerparty in seinem Haus seien die Frauen von ihrem Dekan gefragt worden, warum sie einem Mann den Studienplatz wegnehmen wollten, wird erzählt. "Notorious", wie Ginsburg damals schon war, entgegnete sie: Sie tue dies, um ihren ebenfalls Jura studierenden Ehemann besser verstehen und ihm eine "geduldigere und verständnisvollere Ehefrau" sein zu können.

Die zweite Frau am Supreme Court überhaupt

Im Alter von 60 Jahren war sie die erst zweite Frau am Supreme Court überhaupt – und half fortan dabei, wegweisende Urteile für die Gleichberechtigung und den Schutz von Minderheiten zu fällen. Zuletzt stimmte sie in diesem Sommer erfolgreich gegen Pläne der Trump-Regierung, die "Dreamer" – abzuschieben.

Vor zwei Jahren erlebte der Kult um ihre Person einen vorläufigen Höhepunkt, als gleich zwei Filme über sie erschienen: "RBG" und "On The Basis Of Sex". Bei einem ihrer selten gewordenen öffentlichen Auftritte, beim National Book Festival in Washington im September 2019, erzählte Ginsburg, wie ihre Schwiegermutter ihr einst den entscheidenden Ratschlag für eine gute Ehe gegeben habe: Ab und zu müsse man sich taub stellen, erklärte sie unter dem schallenden Gelächter des sehr weiblichen Publikums. "Diesen Rat habe ich in allen meinen Jobs berücksichtigt" sagte sie.

Die Freundschaft zum konservativen Richter Antonin Scalia

Legendär war auch die Freundschaft mit ihrem konservativen, noch von Ronald Reagan ernannten Richterkollegen Antonin Scalia. Die beiden gingen häufig essen und in die Oper. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Überzeugungen respektierten sie sich – etwas, was in der immer stärker polarisierten amerikanischen Gesellschaft Hoffnung machte. Nach Scalias Tod 2016 schrieb sie: "We were best buddies." Ginsburg war es immer wichtig, dass die Institutionen trotz aller Differenzen arbeitsfähig blieben.

"Der Verlust ist so schmerzhaft", sagt Zoe Wadge. "Es bricht mir das Herz, dass wir nicht einfach an sie erinnern dürfen, ohne uns gleichzeitig um den Fortbestand unserer Demokratie sorgen zu müssen."

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