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Als Jens Spahn 2002 in den Bundestag einzieht, ist er gerade 22 Jahre alt.

© picture-alliance / dpa

Kampf um den CDU-Vorsitz: Warum Jens Spahn nur gewinnen kann

Beim CDU-Parteitag droht Jens Spahn die erste schwere Schlappe seiner Karriere. Aber selbst die ist kalkuliert. Nahaufnahme eines Ungeduldigen.

Als hinge da ein unsichtbarer Sandsack vor ihm. Mit geballten Fäusten boxt er die zentralen Stichwörter seiner Rede nach vorn, „die CDU stark halten“ zum Beispiel oder „entschlossener und klarer kämpfen“, aber auch „Recht durchsetzen“, „für Sicherheit sorgen“, „wir müssen Digitalweltmeister sein wollen“. Wäre die Häufigkeit des Faustballens alleiniges Kriterium für die Wahl des Vorsitzenden, die anderen könnten einpacken.

Sein Mitarbeiter hatte ihm, bevor er am Donnerstag in der alten Industriehalle am Lübecker Hafen auf die Bühne stieg, noch eingebläut: „Und denk dran: immer lächeln!“ Jetzt, am Ende der ersten Regionalkonferenz, ist sich Jens Spahn nicht sicher, ob er den Rat ausreichend befolgt hat. Er sagt, er sei halt, wie er sei. Und lächelt.

Im Wettstreit um die Nachfolge an der CDU-Spitze gilt Spahn als krasser Außenseiter. Als derjenige unter den drei prominenten Bewerbern, dessen wichtigstes Verkaufsargument – konservativer, wirtschaftsnaher Kanzlerinnenkritiker – bereits der deutlich beliebtere Friedrich Merz für sich beansprucht. Laut Emnid wünschen sich Spahn nur sieben Prozent der Unionsanhänger als neuen Parteichef, im Duell zwischen moderat-merkelfreundlich und moderat-merkelfeindlich ist er der überflüssige Dritte.

Sollte Spahn in zwei Wochen beim Parteitag in Hamburg tatsächlich eine deutliche Schlappe kassieren, wäre es die erste seiner Karriere. Er kennt nur das Gefühl, sich durchzusetzen, und zwar per Kampfabstimmung. Mit 38 Jahren sitzt er schon 16 Jahre im Bundestag, hat seinen Wahlkreis fünf Mal hintereinander gewonnen, ist Mitglied im CDU-Präsidium und seit März Gesundheitsminister. Was für eine sensationelle, rasant verlaufene Karriere. Geht er diesmal ein zu hohes Risiko ein? Und wird ihm das langfristig schaden?

Zwei Eigenschaften, sagen Freunde wie Feinde, haben diese Karriere befeuert: viel Ehrgeiz und wenig Geduld. Dass Spahn kaum Aufwand betreibt, beides zu verstecken, gilt als Mitgrund für seine Unbeliebtheit. Andererseits gibt es im politischen Berlin kaum einen, der ernsthaft bestreitet, was für ein talentierter Machtpolitiker Spahn ist und wie sehr er sich fachlich auskennt – noch dazu im komplizierten Bereich der Gesundheitspolitik, in dem Glänzen traditionell schwerfällt. Seine Pläne für die absehbare Zukunft hat Spahn einmal mit dem Satz „Bekannt bin ich jetzt, beliebt muss ich noch werden“ zusammengefasst.

Wer ihn bei öffentlichen Auftritten beobachtet, im Plenarsaal des Bundestags, bei Veranstaltungen der Krankenversicherer, in Diskussionsrunden mit Pflegekräften oder mit Bürgern, der staunt über seine rhetorische Versiertheit. Spahn argumentiert präzise, bleibt standhaft, lässt sich nie aus der Ruhe bringen.

„So ehrlich bin ich zu Ihnen“

Zum Beispiel an einem Nachmittag Ende September. Im denkmalgeschützten Langenbeck-Virchow-Haus gegenüber der Charité findet der „1. Therapiegipfel der Heilmittelerbringer“ statt. Im Historischen Hörsaal steht Spahn am Rednerpult, vor ihm 500 Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden. Sie sind spürbar frustriert, einige aufgebracht, sie wünschen sich dringend bessere Vergütung. Der Minister macht ihnen in diesem Punkt keine Hoffnungen. „So ehrlich bin ich zu Ihnen“, sagt er. Nach 20 Minuten wird er dennoch mit viel Beifall verabschiedet, weil alle im Raum das Gefühl haben, dass sich da einer mit der Materie auskennt.

Kein Wunder, dass zu Spahns Lieblingsforderungen auch jene gehört, es müsse in der Bundesrepublik endlich mehr „offene Debatten“ geben. Eine Debatte, bei der Jens Spahn am Ende nicht als der Souveränste im Raum erscheint, hat einfach nicht lang genug gedauert.

Sympathisch macht ihn das noch lange nicht. Die rhetorische Überlegenheit hat immer auch etwas Streberhaftes. Befolgt er dazu noch den Rat seiner Mitarbeiter und lächelt, wirkt es nicht besser. Im Netz behaupten Spaßvögel, eine Ähnlichkeit Spahns zum Roboter aus der Zeichentrickserie „Futurama“ erkannt zu haben.

Jens Spahn diese Woche in Berlin.
Jens Spahn diese Woche in Berlin.

© dpa/Kay Nietfeld

Bei seinen Auftritten und in Interviews spricht er stets davon, „verlorenes Vertrauen“ zurückgewinnen zu wollen. Und er nennt eine Zahl: 3700. So viele Menschen leben in Ottenstein, seinem Heimatdorf im Westmünsterland. 3700 signalisiert vor allem Bodenständigkeit. Dass Jens Spahn eben kein natürlicher Teil der hysterischen Hauptstadt mit ihrem Politikzirkus sei. Spahn betont gern, Berlin sei etwa tausendmal so groß wie Ottenstein.

Im Westmünsterland war in ihm alles schon angelegt: Ehrgeiz, wenig Geduld. Zu Schulzeiten ist er Stufensprecher, nimmt am Bundeswettbewerb Latein teil, wird dort „für Einzel- und Gruppenarbeiten“ ausgezeichnet. Auch bei der „Katholischen Jungen Gemeinde“ empfiehlt er sich „schnell für Führungsaufgaben“, so steht es in seiner kürzlich erschienenen Biografie. Nachmittags trifft er sich mit Freunden im Dorfpark auf der Wiese, sie nennen sich „PG“, das steht für „Park-Gang“. Spahn fällt bei PG-Treffen durchs parallele Pauken von Lateinvokabeln auf. Mit 15 tritt er der Jungen Union bei. In seiner Abiturzeitung steht, dass Jens Spahn einmal Bundeskanzler wird.

Aus Protest gegen Protest gegen Atomkraft

Politisiert hat ihn die Debatte um das nahe gelegene Atommüll-Zwischenlager Ahaus, jedoch ganz anders als viele seiner Altersgenossen. Ihn empört nicht etwa, dass Brennelemente in seine Nachbarschaft gebracht werden – im Gegenzug für ein Wellenbad und die Renovierung des Stadtschlosses. Sondern dass Lehrer seiner Schule dazu aufrufen, sich an Demonstrationen gegen Atomkraft zu beteiligen. Er schreibt einen Leserbrief an die Lokalzeitung, Überschrift: „Kernenergie nutzt Umwelt“. Der Brief wird abgedruckt, Spahn erhält etliche wütende Reaktionen, wird sogar bespuckt. Von jetzt an schreibt er regelmäßig Leserbriefe.

An einem Sonntag im August 2018 schreitet Spahn durchs Atrium seines Ministeriums in der Friedrichstraße. Es ist „Tag der offenen Tür“, Kinder können malen oder Wiederbelebung üben, die Johanniter bieten Gesundheitschecks an. Ein Mann im riesigen Krokodilkostüm hält dem Minister seine Riesenzahnbürste hin. Der fängt an, das Krokodilsmaul zu schrubben, immer vor und zurück an den Zahnreihen entlang. Ein Familienvater stutzt: „Weiß der nicht, wie man heute Zähne putzt?“ Anschließend spricht Spahn im Nebenraum über seine Pläne für 13 000 zusätzliche Pflegekräfte. Ein Zuhörer schreit dazwischen. Spahn verspreche doch nur, halte nichts. Der Minister lächelt und stellt beiläufig klar, der Störer sei übrigens kein aufgebrachter Bürger, sondern Mitglied eines Interessenverbands. Der Mann steht entlarvt da, Spahn wird beklatscht.

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Je aggressiver das Gegenüber, desto ruhiger argumentiert Spahn. Er ist es ja gewohnt. Anzuecken gehört bis heute zu seinem Markenkern. Besonders für Linke ist Jens Spahn ein wandelnder Trigger auf zwei Beinen. Mit Sätzen wie „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“. Mit Forderungen wie der nach höheren Sozialabgaben für Kinderlose. Vor allem jedoch für seine Thesen zur nationalen Identität und in der Migrationsdebatte. Spahn fordert deutsche Leitkultur, warnt vor Selbstverzwergung. Es nervt ihn, dass in Berliner Restaurants „penetrant nur Englisch geredet“ werde. In einem Lokal in der Torstraße sei er tatsächlich „doof angemacht worden“, als er gesagt habe, er wolle sein Gericht auf Deutsch bestellen. Das sei ein französisches Restaurant gewesen, sagt er. „Da gehe ich nicht mehr hin.“

Besondere Aufmerksamkeit garantieren ihm seine Thesen zum Islam. Er sagt Sätze wie: „Ich will Kopftücher nicht mögen müssen.“ Er fordert ein Verbot der Vollverschleierung, sagt: „Ich will in diesem Land keiner Burka begegnen müssen. In diesem Sinne bin ich burkaphob.“ Er regt sich über „arabische Muskelmachos“ auf, die in seinem Schöneberger Fitnessstudio in Unterhose duschten, weil sie sich nackt genierten. Er erkennt eine „spießige Verklemmtheit, die vom konservativen Islam ausgeht“.

Offenheit beschränken, um Offenheit zu bewahren?

Intolerant seien seine Bemerkungen jedoch nicht, im Gegenteil. Spahn erklärt es so: In Deutschland sei in den vergangenen 25 Jahren „eine wahnsinnig entspannte Gelassenheit und Offenheit“ entstanden, ein respektvoller Umgang gegenüber Fremden. Diese neue Freiheit müsse geschützt werden – eben auch vor dem Einfluss „anderer, zum Teil reaktionärer Kulturen“. Er will die Offenheit beschränken, um die Offenheit zu bewahren.

Jens Spahn lebt mit einem Redakteur des Magazins „Bunte“ zusammen, vergangenes Jahr haben sie geheiratet. Spahn sagt, sie seien in der Öffentlichkeit mehrfach homophob beleidigt worden, jeweils von „türkisch- oder arabischstämmigen Jugendlichen“. Zuletzt beschimpfte sie jemand in der Supermarktschlange als „Schwanzlutscher“, und der Akzent sei auch hier „jedenfalls nicht schwäbisch“ gewesen.

Auf der Regionalkonferenz in Lübeck werden die Bewerber gefragt, worin sie sich von ihren Kontrahenten unterscheiden. Friedrich Merz verweigert die Antwort, erklärt, sie hätten vereinbart, nur Gutes übereinander zu sagen. Was Spahn nicht daran hindert, Merz kurz darauf für dessen Haltung in der Migrationsfrage zu kritisieren. Er selbst meint, 200 000 Flüchtlinge pro Jahr seien zu viel.

Die drei aussichtsreichsten Kandidaten für den CDU-Vorsitz.
Die drei aussichtsreichsten Kandidaten für den CDU-Vorsitz.

© dpa/Kay Nietfeld

An einem Donnerstagabend im Herbst kommt Spahn in den Hamburger Bahnhof. Die privaten Krankenversicherer haben zum Fest geladen, im Restaurant der Starköchin Sarah Wiener. Der Minister spricht mal wieder von „verlorenem Vertrauen“ und fordert „mehr offene Debatten“, beschwert sich, dass tatsächlich einige bezweifelten, dass „der Gesundheitsminister etwas zu Hartz IV sagen“ dürfe. Dann Chemnitz: Man könne jetzt natürlich noch fünf Wochen weiter darüber diskutieren, ob es dort nun Hetzjagden gab oder Jagdszenen, aber viel wichtiger sei es doch, über den brutalen Mord an Daniel H. und die Hintergründe zu reden!  Er bekommt anhaltenden Applaus.

Zu den Konstanten seines Politikerlebens gehört, dass Außenstehende bei jedem neuen Spahn-Aufreger rätseln, ob es sich um eine gezielte Provokation, innere Überzeugung oder bloß um ein Missverständnis handelt. Ob eine Forderung tatsächlich seiner politischen Meinung entspricht oder Strategie ist, um zur AfD übergelaufene CDU-Wähler zurückzugewinnen. Am Sonntag hat er gefordert, der Parteitag im Dezember solle über den von Rechten gehassten UN-Migrationspakt entscheiden, bis dahin dürfe die Bundesrepublik nicht zustimmen.

Wie Jens Spahn zur Gesundheitspolitik kam

Schaut man sich die verschiedenen Etappen seiner bisherigen Karriere an, erkennt man: Spahn weiß immer sehr genau, was er wann sagt und was er damit bezwecken will. Er ist einer, der nichts dem Zufall überlassen möchte. Der im Westmünsterland Freunde und Bekannte überredet, vor wichtigen Abstimmungen noch schnell in die Partei einzutreten, um dann für ihn zu stimmen. Der Busse organisiert, um seine Unterstützer zu Parteitagen zu karren. Der Bündnisse schmiedet, Wagnisse eingeht und Mitbewerber reihenweise in Abstimmungen besiegt.

Als er mit 22 Jahren in den Bundestag gewählt wird, geht er auch hier strategisch vor, so ist es in seiner Biografie nachzulesen: Spahn sucht sich sein künftiges Fachgebiet nicht etwa nach Vorkenntnissen oder persönlicher Neigung aus, sondern danach, in welchem Bereich ein schneller Aufstieg gelingen kann. Er braucht ein Feld, das wichtig, aber personell schwach oder jedenfalls von Älteren besetzt ist, die demnächst weichen werden. So kommt er zur Gesundheitspolitik. Er überlegt auch, ob sein Bekanntheitsgrad schneller steige, wenn er ab sofort zusätzlich seinen zweiten Vornamen verwende: Jens Georg Spahn könnten sich die Leute womöglich besser einprägen. Er verwirft das.

Eigentlich wollte er schon 2013 Minister werden. Doch er wird übergangen. Ungefähr hier beginnt er sich als Merkel-Widersacher zu positionieren. In einer weiteren Kampfabstimmung gelingt es ihm Ende 2014, ins CDU-Präsidium einzuziehen, wobei er ausgerechnet den Merkel-Vertrauten Hermann Gröhe aussticht.

Bald darauf bietet ihm die Kanzlerin den Posten des parlamentarischen Staatssekretärs im Finanzministerium an. Er zögert. Als parlamentarischer Staatssekretär steht man nicht im Scheinwerferlicht. Riskiert, hinter der Sacharbeit zu verschwinden. Am Ende lässt sich Spahn doch drauf ein und tut alles für seine Sichtbarkeit. Er tritt in Comedyshows auf, spricht bei Markus Lanz über Syrienkonflikt und Flüchtlinge, zeigt im „Morgenmagazin“, wie sein Fitnessstudio aussieht, macht mit dem Moderator ein paar Rückenübungen. Wenn er gefragt wird, was dies denn genau sei, ein parlamentarischer Staatssekretär, antwortet er: „im Grunde der Stellvertreter von Wolfgang Schäuble“.

Auf die Kritik eines anonymen Parteifreunds, Spahn gehe es immer nur um Spahn, verglichen mit ihm sei eine Ich-AG eine soziale Veranstaltung, antwortet der offen: Wer in seinem Alter bereits keinen Ehrgeiz mehr habe, mache etwas falsch. Und weiter: „Natürlich möchte ich gestalten, natürlich möchte ich vorankommen.“

An diesem Dienstag findet die zweite Regionalkonferenz statt, diesmal in Idar-Oberstein. Es wird spekuliert, Spahn könnte demnächst seine Bewerbung zurückziehen und Friedrich Merz das Feld überlassen. Das wird er wohl schon deshalb nicht tun, weil ja bis zuletzt die – wenn auch kleine – Chance besteht, dass Merz noch aus der Kurve fliegt, von einem Skandal eingeholt wird, was auch immer. Dann stünde Spahn bereit, die Lücke zu füllen.

Vor allem aber tun ihm die Regionalkonferenzen gut. Solange er hier nicht missgünstig oder am Ende wie ein schlechter Verlierer wirkt, sind sie seine Chance, ein sympathischeres Bild von sich zu zeichnen. Eines, das Jens Spahn in ein paar Jahren, in fünf, zehn oder 15, vielleicht ganz nach oben bringen wird.

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