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Bodentruppe. Rund 40 Kilogramm wiegt der Splitterschutzanzug der Entschärfer. Rein kommt man da nur mit Hilfe der Kollegen.

© imago

Nach Anschlag in der Hauptstadt: Wie Berlins Bombenentschärfer gegen Terror kämpfen

Ihre echten Namen dürfen die Entschärfer nicht nennen. Verraten sie zu viel, könnten Menschen sterben.

Es ist Freitagmorgen kurz vor halb acht, als der junge Mann seinen Koffer vor die US-Botschaft rollt. Direkt unter das Glasdach des Haupteingangs, Pariser Platz 2, oben wehen die Stars and Stripes. Der Mann stellt den Koffer ab, spricht den Wachschutz an und sagt, er müsse dringend ins Gebäude, seinen Ausweis erneuern. Der Wachschutz wundert sich. Dafür sei doch das Konsulat in der Zehlendorfer Clayallee zuständig. Da schlägt der Mann dem Wachschutz mit der Faust ins Gesicht. Kurzes Gerangel, der Angreifer geht zu Boden, zwei deutsche Polizisten eilen zu Hilfe. Bevor der Mann abgeführt wird, schreit er: „In dem Koffer liegt eine Bombe!“ Er behauptet, er wolle den Tod von Osama bin Laden rächen. Minuten später bekommt das Team von Sven Bergen einen Anruf.

Das war vor einem Jahr. Jetzt sitzt Bergen in seinem Büro am Tempelhofer Damm hinterm Schreibtisch und sagt, er müsse sich in diesem Gespräch jedes Wort gut überlegen. Sonst gefährde er Menschenleben. Sven Bergen, 55, ist Chef der achtköpfigen Entschärfer-Einheit des Landeskriminalamts, die gerufen wird, wenn in Berlin ein verdächtiger Koffer, Beutel oder Schuhkarton entdeckt wird. Mehr als 400 Mal ist das vergangenes Jahr geschehen. So wie diesen Montag, als die Polizei zwei Stunden lang den Hermannplatz in Neukölln absperren musste – wegen eines Koffers, der am Ende bloß Elektroschrott enthielt.

Die Angst komme, wenn überhaupt, im Nachhinein

Sven Bergen sagt, jedes Jahr gebe es weltweit 10.000 Anschläge. Nur ein bis zwei Prozent davon tauchten später in den Medien auf. Gefühlt wird allerdings immer häufiger berichtet, die Bilder nach den Anschlägen von Ansbach, Würzburg, Brüssel oder Paris sind allgegenwärtig. Politiker warnen vor Panik, sorgen sich um das „subjektive Sicherheitsempfinden“. Die Menschen sind misstrauischer. Und bei Bombenentschärfer Bergen kommt diese Besorgnis nach jedem Vorfall sehr konkret an: „Es gibt dann einen wellenförmigen Anstieg an Einsätzen, immer drei Wochen lang.“

Sven Bergen hat kurzes blondes Haar, trägt ein schwarzes Hemd. Muskulöser Typ. Es fiele nicht auf, spielte er in einem Bruce-Willis-Film mit. Seit 23 Jahren ist er Entschärfer. Bergen berlinert, er sagt, er spüre bei seinen Einsätzen kein Adrenalin, brauche es auch nicht: „Man funktioniert einfach.“ Die Angst komme, wenn überhaupt, im Nachhinein. Es helfe, jeden Fall als „technisches Problem“ zu sehen. Auszublenden, dass zu Hause Familie wartet. „Verdränger sind klar im Vorteil“, sagt er. Und dann noch: „Ich bin ein Verdränger.“

Allerdings gehe die zunehmende Alarmstimmung an die Substanz. Zwischenzeitlich hieß es, sein Team solle bei Bundesligaspielen zugegen sein, dann auch bei Drittligaspielen. Bis zu 15 Wochen im Jahr darf Sven Bergen Berlin nicht verlassen. Er kennt Kollegen, die sich kaum aus dem Haus trauen, wenn sie Rufbereitschaft haben. „Ich versuche, möglichst viel Alltagsleben aufrechtzuerhalten.“ Wenn die Wände nicht zu dick sind, darf er ins Kino. Von Tykwers „Das Parfum“ hat er nur die ersten 20 Minuten gesehen.

Bergen kommt Menschen in die Quere, die keine Hemmung haben zu töten

Sven Bergen heißt eigentlich anders. Er muss sich schützen, genau wie seine Frau und die sechsjährige Tochter. Sein Job ist es schließlich, Menschen in die Quere zu kommen, die keine Hemmungen haben zu töten. Viel ist deshalb nicht bekannt über seine Arbeit, auch wenn er das öffentliche Interesse nachvollziehen könne, es vermutlich sogar hilfreich sei, wenn die Bürger in diesen Zeiten wüssten, dass ihr Staat nicht planlos sei. Dass er Spezialisten beschäftige, die alles täten, um Terror zu verhindern. „Andererseits könnte jede Information, die ich unachtsam preisgebe, der Gegenseite helfen.“ Kennt ein Terrorist seinen Arbeitsablauf, kann er sich darauf einstellen.

Bei dem Rollkoffer, der im März 2016 vor der US-Botschaft steht, ist unklar, ob überhaupt Gefahr von ihm ausgeht. Sein Besitzer könnte gelogen haben. Er könnte sich die Existenz des Sprengsatzes spontan ausgedacht oder seinen Auftritt lange geplant haben. Er könnte ein Aufschneider sein oder ein Psycho. Oder eben nicht. Ziemlich viele Konjunktive.

Der Koffer steht senkrecht auf dem Bürgersteig. Er ist aus dunkelblauem Stoff, alle Reißverschlüsse sind zugezogen. Jede Bewegung könnte eine Explosion auslösen. Und doch hat die Situation etwas Gutes. Der Koffer befindet sich an einer freien, von verschiedenen Seiten gut erreichbaren Stelle. Das bedeutet: Der Roboter kann anrücken.

Der Koffer ist aufgeplatzt. Der Inhalt war ungefährlich

Die Maschine, die Bergens Team benutzt, heißt Teodor. Das ist ein Akronym aus dem Namen der Herstellerfirma sowie der Funktionsbezeichnung „Explosive ordnance disposal and observation robot“. Roboter zur Beobachtung und Sprengstoffbeseitigung. Teodor wiegt 350 Kilo und fährt auf Metallketten wie ein Panzer. Im Moment steht er in der Tiefgarage. Bergen ist bereit, ihn zu zeigen.

Die Parkebene unter dem Landeskriminalamt ist streng gesichert. Nur ein paar Tauben kommen hier unbefugt rein, sie haben gelernt, durch die Schleusen zu fliegen. Die Wagen von Bergens Team stehen nicht bei den übrigen Einsatzfahrzeugen, sondern in einer separaten Nische. „Wegen des Sprengstoffs und der Waffen an Bord“, sagt Bergen. „Und weil da nicht jeder reingucken soll.“

Er zieht ein Stahlgatter zur Seite. Zwei weiße Mercedes-Sprinter. Jeder hat einen Teodor hinten im Laderaum. Klappe auf. Sieht unspektakulär aus. Typ Riesenrasenmäher. Sechs Räder pro Seite, fünf Kameras, ein Greifarm, der 80 Kilo heben kann. Und dann, ganz wichtig: die Wasserkanone. Sie soll die Bomben unschädlich machen.

Aus der Nähe abgefeuert, zerreißt der Hochdruckwasserstrahl Kabel, Schalter, Metallbehälter und eigentlich alles, was sonst noch zerreißen kann - in einer fünftausendstel Sekunde. So schnell kann kein elektrischer Impuls ausgelöst werden.

Auf diese Weise hat Teodor auch den Koffer am Pariser Platz erledigt. Aus sicherer Entfernung haben sie den Roboter hingelenkt, die Kanone ausgerichtet und dann gefeuert. Der Koffer ist aufgeplatzt. Es waren bloß Kleidungsstücke und DVD-Hüllen drin.

Bei den Berliner Entschärfern ist immer ein Team in Bereitschaft

Sven Bergen neigt zu Behördendeutsch. Spricht von Beschaffungsanträgen und Entscheidungssituationen, personenfernem Manipulieren, Sekundär- und Tertiärwirkungen. Der Roboter heiße eigentlich Fernlenkmanipulator. Aber Bergen lässt auch Roboter durchgehen.

Teodor wurde im baden-württembergischen Oppingen zusammengebaut, in einem kleinen Industriegebiet in der Nähe von Ulm. Dort sitzt die Firma „Telerob“. Ein mittelständischer Betrieb, der nach dem Unglück von Tschernobyl Roboter konstruierte, die nach einem GAU in verstrahlte Bauten eindringen und Aufräumarbeiten erledigen können. Heute ist die Bombenentschärfung das wichtigste Geschäftsfeld. Am Telefon sagt Geschäftsführer Thomas Biehne, weltweit seien 550 Roboter vom Modell Teodor im Einsatz. „Die meisten bei Polizei oder Armeen von Nato-Staaten.“ Erst zwei Stück seien durch Explosionen beschädigt worden, beide in Afghanistan, als Bundeswehr-Soldaten versuchten, Sprengsätze zu entschärfen. Ein Teodor hatte Totalschaden.

Bei den Berliner Entschärfern ist immer ein Team in Bereitschaft. Es wird aber nicht gleich alarmiert, sobald ein Bürger einen ungewöhnlichen Gegenstand meldet. Erst muss der herbeigerufene Streifenpolizist entscheiden, dass ihm der Gegenstand zu suspekt ist, um ihn selbst anzufassen, und ihn als „sprengstoffverdächtig“ einstufen. Grund kann ein Bauchgefühl sein, meistens sind es Details: ein seltsamer Aufkleber, die Nähe zum jüdischen Kindergarten, ein Augenzeuge, der einen Verdächtigen wegrennen sah. Der Polizist berichtet einem Vorgesetzten. Nur wenn der die Vermutung für plausibel hält, werden die Entschärfer alarmiert. Vom Anruf bis zur Ankunft des Teams vergeht nie mehr als eine Stunde, sagt Sven Bergen. „Auch nachts raus nach Marzahn.“

Wie deutsche Entschärfer vorgehen, ist in einer Bundesvorschrift geregelt

Als Entschärfer braucht es eine gewisse Sturheit. Man muss sich zum Beispiel weigern, mit der Arbeit zu beginnen, bevor die gesamte Umgebung geräumt ist. Sven Bergen erzählt von Polizeiführern, die fragen: „Warum müssen wir hier alles räumen, bevor ihr euer Röntgenbild macht?“ - „Weil der Terrorist vielleicht weiß, dass ich ein Röntgenbild machen werde“, antwortet Bergen stets. „Und das dann ausnutzt.“

Franz Fuchs zum Beispiel, der Briefbombenbauer aus Österreich. In seine Vorrichtungen hatte er 14 verschiedene Auslösemöglichkeiten eingebaut, darunter auch ein Geiger-Müller-Zählrohr, das Röntgenstrahlen registriert und so die Explosion in Gang setzt. Franz Fuchs' Sprengsätze passten in einen Briefumschlag, nur sechs Millimeter dick.

Wie deutsche Entschärfer vorgehen, ist in einer Bundesvorschrift geregelt, selbstverständlich geheim. Trotzdem variiert das Prozedere von Team zu Team, sagt Bergen. „Es ist wie beim Schreiben. Man entwickelt eine Handschrift.“

Früher hatte die Berliner Polizei den Roboter „Hobo“, ein irisches Modell. „Es ließ sich sehr fein steuern“, sagt Bergen, habe aber bloß in Ausnahmefällen funktioniert. Roboter Teodor ist zuverlässig. Nur einmal gab es ein Problem. Bei einem Einsatz im Mai 2015 am Alexanderplatz nahm er plötzlich keine Steuersignale mehr entgegen, drehte sich im Kreis, überfuhr ein Fahrrad und kippte um. Bergen sagt, das Problem sei behoben.

Der Roboter kann Treppenstufen überwinden und 45 Grad steile Flächen. Trotzdem geschieht es oft, dass sich der verdächtige Gegenstand an einer Stelle befindet, wo der Roboter nicht hingelangt. Dann wird es für Sven Bergen lebensgefährlich. Weil er selbst zur Bombe muss.

Das Gefährlichste bei Explosionen sind die Druckveränderungen

Im Regal des Sprinters liegt der Splitterschutzanzug. Kevlarschichtsystem, 40 Kilo, Sven Bergen schafft es nur rein, wenn der Kollege hilft. Dazu ein Helm mit Kühlung und Ventilator, damit das Visier nicht beschlägt. Während des Einsatzes wird im Anzug ein leichter Überdruck erzeugt. Denn das Gefährlichste bei Explosionen in nächster Nähe sind nicht Splitter oder abgerissene Gliedmaßen, sondern die Druckveränderungen. Erst der extreme Anstieg, dann der Druckabfall unter null. Das Vakuum zerreißt Lunge, Luftröhre, Milz.

Immer wieder kommt es in anderen Ländern zu Todesfällen bei Bombenentschärfungen. Zuletzt vergangenen Dienstag im pakistanischen Quetta. In Nigeria starb ein Kollege an einer Bombe von Boko Haram. 2015 traf es einen ägyptischen Entschärfer an einer Tankstelle im Stadtzentrum Kairos, auf YouTube gibt es ein Video davon. Im Schutzanzug trat der Mann an einen Blumenkübel heran, hob eine Tüte auf, es knallte. Er wurde durch die Luft geschleudert und war sofort tot.

Sven Bergen sagt, an vielen Unfällen im Ausland seien schlechte Ausstattung oder mangelhafte Ausbildung schuld. Und das Berufsbild des Entschärfers in autoritären, hierarchisch geführten Staaten. Oftmals müssten Entschärfer Befehle von Vorgesetzten ausführen, die noch weniger Sachverstand hätten. „Könnte bei uns nicht passieren.“ Deutsche Entschärfer haben eine Freiwilligkeitserklärung unterschrieben. Sie können zu nichts gezwungen werden. In Berlin sind sie im Einsatz allen anderen anwesenden Polizisten gegenüber weisungsbefugt. Trotzdem bleiben Unfälle nicht aus. Einem Kollegen wurde bei einer Explosion die Hand abgerissen, das Augenlicht schwer geschädigt.

Im Sprinter liegt ein Rucksack mit Angelleinen und Luftschlangenspray

In dem Sprinter liegt neben dem Roboter allerhand Werkzeug. Atemschutzmasken, ein Haken- und Leinensatz, mit dem Bergen eine Seilbahn bauen kann, falls der verdächtige Gegenstand erst aus einem Gebäude gebracht werden muss. Und ein schwarzer Rucksack mit Dingen, die man bei einem Entschärfer nicht vermuten würde: Angelleine, Knicklichter, ein Luftschlangenspray. Das kann man in den Raum schießen, um unsichtbare Drähte zu erkennen, die eine Bombe auslösen könnten.

Sven Bergen sagt, genau darum gehe es in seinem Beruf: individuelle Lösungen für unerwartete Probleme zu finden. Vergangenen Sommer waren Entschärfer aus Japan zu Besuch. Die zwei Wörter, die am häufigsten fielen, waren „improvised solutions“. Bergen trägt an seiner linken Hand einen Silberring. Jeder in seiner Gruppe hat so einen. Es ist eine explodierende Granate drauf zu sehen, dazu drei Buchstaben: IED. Steht für „improvised explosive device“ - also unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung. In Berlin sagen sie dazu: „Ick entschärf dit.“

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