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Schach-Weltmeister Magnus Carlsen verteidigt aktuell in New York seinen Titel. Sein Aufstieg ist einer der Gründe für den aktuellen Schach-Boom.

© dpa/Justin Lane

Schach-Weltmeisterschaft: Ein Kinderspiel

Magnus Carlsen gegen Sergej Karjakin - ein Duell der einstigen Wunderkinder. Immer jünger, immer stärker – das ist der Trend. Auch Berlin ist im Schachfieber. Immer mehr Kinder messen sich in dem Denksport. Ein Streifzug durch die Szene.

Klack. Lange Ruhe. Klack, klack. Wieder Ruhe. Jedes „Klack“ stoppt die eigene Uhr und setzt die des Gegners in Gang. Jetzt spielt der andere gegen die Zeit. Was soll dieser Zug? Ein Fehler? Eine Falle? Dann der Schreck, plötzlich steigt Hitze im Körper des Mädchens auf, das im Klassenraum 202 am Spielbrett sitzt. Der Zug, den es eben gesetzt hat, war schlecht. Der Gegner könnte erst „Schach“ und wenig später „matt“ sagen. Wird er es merken?

Auf dem Schachbrett stehen auf 64 Feldern 32 Figuren. Es gibt mehr Varianten als Atome im bisher entdeckten Universum. Das kann keiner durchrechnen. Trotzdem muss aus Nachdenken Vordenken werden. Sonst gewinnt der andere.

Würden Gedanken aus Köpfen wie weißer Rauch aufsteigen, könnte man in Klassenraum 202 die Hand nicht vor Augen sehen. Ein Samstag an der bip-Grundschule in Weißensee, das Kürzel steht für „Bildung und innovative Pädagogik“. Hier kämpfen 42 Unter-Zehnjährige um den Einzug ins Finale der Berliner Jugend-Einzelmeisterschaft. Da gibt es Tränen und Triumphe, Seufzer und Siege.

Die Berliner Schachjugend besetzt an diesem Tag die ganze Schule. Die Unter-12- und Unter-14-Jährigen spielen auch, in zwei Extra-Turnieren werden Medaillen und Gummibärchen verteilt. Die Betreuer aus den Schachvereinen brauchen ihre Rückzugszimmer ebenso wie die Eltern der Kinder. Rote Wangen künden von langer Konzentration.

In Berlin ist von einem Schach-„Boom“ die Rede, einem „Hype“

Berlin ist im Schachfieber. Das sagen alle, ob Trainer, Vereinsvertreter, Verbandsvertreter, Lehrer. Von einem „Boom“ ist die Rede, einem „Hype“. Im Kinder- und Jugendbereich hat sich die Zahl der Spieler in wenigen Jahren verdoppelt. In vielen Schulen gründeten sich Schach-AGs. Nicht nur in der bip-Schule, auch im Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Prenzlauer Berg ist Schach reguläres Unterrichtsfach. Der Verein „Schach für Kids“ will den Denksport schon Dreijährigen anbieten. Die Nachfrage steigt so stark, dass ausgebildete Trainer und Pädagogen fehlen.

Woher kommt das Fieber? In den Vereinen heißt es: Wir machen eben gute Arbeit. In den Verbänden heißt es: Wir haben geeignete Angebote. Oder sind’s die ehrgeizigen Eltern, die meinen, ihre Zöglinge bräuchten neben Fußball auch noch Kopfarbeit? Richtig erklären kann das Phänomen keiner. Auffällig ist, dass Schach just zu der Zeit populärer wurde, als der Norweger Magnus Carlsen 2013 Weltmeister wurde – mit 22 Jahren, der jüngste Schachweltmeister aller Zeiten.

Carlsen, der „Wunderjunge“, „Mozart des Schach“. In diesen Tagen verteidigt er seinen Titel in New York gegen Sergej Karjakin, der von der damals sowjetischen Krim stammt, im Jahr 2009 die russische Staatsbürgerschaft annahm und für Russland spielt. Aktuell sieht es für Carlsen nicht gut aus. Karjakin führt in dem auf zwölf Partien angesetzten Duell mit 4,5 zu 3,5 Punkten. Der Titelverteidiger hat noch kein Spiel gewonnen.

Ist Karjakin stärker? Auch er lernte das Spiel als kleiner Junge, wurde 2002, im Alter von zwölf Jahren und sieben Monaten, der jüngste Schachgroßmeister der Geschichte – ein Großmeister muss 2500 Elo-Punkte erreicht haben. Die Zahl errechnet sich durch die besiegten Gegner. Mit 2882 Punkten führt Carlsen.

Hunderte von Eröffnungsvarianten müssen gelernt, tausende Stellungen analysiert werden

Carlsen war 13, als er den Titel erwarb. Womöglich hat Karjakin die härteren Nerven, die bessere Kondition. Die letzte Partie dauerte sechs Stunden und verlief dramatisch. Carlsen ist Niederlagen nicht gewohnt, manchmal zerbricht ein Weltklassespieler nach einem solchen Moment. Carlsen wie Karjakin verkörpern den Trend: Immer jünger, immer stärker, immer schneller müsst ihr sein. Die Gehirne von Kindern sind sehr aufnahmefähig, ein 20-Jähriger kann sich länger konzentrieren als ein 60-Jähriger. Hunderte von Eröffnungsvarianten müssen gelernt, tausende Stellungen analysiert werden, um oben mitzuspielen.

Disziplin, Ausdauer, Gedächtnis, Intuition, visuelle Fantasie – das alles wird gebraucht. Ist Schach ein Sport? An der Frage scheiden sich die Geister. Wäre ein Kriterium dafür der Kalorienverbrauch pro Partie, gäbe es den Streit nicht.

Die neue Schach-Elite ist jünger denn je. Besonders aus China, Indien, Südkorea und dem Iran kommen junge Talente. Früh beginnt in diesen Ländern die Förderung. In Russland werden Schachtrainer oft nach den Leistungen ihrer Schüler bezahlt. Der Druck wird an diese weitergegeben. Wer in Deutschland – meist etwas verächtlich – von der „russischen Schule“ spricht, meint damit ein System aus Drill und Strafen. Kasernenhofschach.

In die bip-Grundschule in Weißensee kommt auch Ralf Reiser, Berlins Schulschachreferent. Er ist gewissermaßen der Vermittler zwischen Schachverbänden und Senat. Mit einfachen Worten lobt Reiser seinen Sport. „Schach ist ehrlich“, sagt er. Weder gibt es umstrittene Schiedsrichterentscheidungen wie beim Fußball noch subjektive Haltungsnoten wie beim Turnen. „Schach ist geschlechtsneutral“, sagt er. Es kann passieren, auch wenn das nicht die Regel ist, dass ein Mädchen im Turnier alle Jungs besiegt. „Schach ist altersunabhängig“, sagt er. Zwar gibt es Altersklassen im Jugendschach, doch ein Elfjähriger kann einen 16-Jährigen besiegen. „Schach ist integrativ“, sagt er. Sprache und Herkunft spielen keine Rolle.

Mit dabei am vergangenen Samstag ist Olaf Sill, Jugendwart des Berliner Schachverbandes und verantwortlich für die Ausrichtung der Einzelmeisterschaften. Auch Still hält nichts von der russischen Schule – „der Spaß am Spiel muss an erster Stelle stehen“ –, sagt er, aber: Hierzulande würden Kinder zu wenig und oft zu spät gefördert. So habe der Berliner Verband unlängst den Antrag gestellt, eine Deutsche Meisterschaft der Unter-Achtjährigen zu veranstalten. Das sei am Widerstand anderer Verbände gescheitert. Dort glaubt man, das sei zu früh, nicht gut für die Entwicklung der Kinder.

Sill wünscht sich vor allem mehr Trainer in der Breite und eine gezielte Förderung in der Spitze. Außerdem will er die Frauenquote erhöhen, die bundesweit bei neun Prozent liegt. Sill wurde selbst von einer Trainerin ausgebildet, er weiß, wie schwer es Schachspielerinnen haben können. „Du spielst wie ein Mädchen“, lästern Jungs immer noch. „Was dagegen hilft, sind extra Mädchen-AGs“ an den Schulen, sagt er. Das verhindere Frustration und zu frühe Erfahrungen von Diskriminierung. Mit wachsender Spielstärke würden sie dann selbstsicherer.

Benjamin mag am Schach "das Unberechenbare"

Benjamin Rouditser ist gerade 13 geworden. Für die „SG Lasker Steglitz-Wilmersdorf“ hat er sich in der U-14-Klasse für die Meisterschaft qualifiziert. Er trägt eine Hornbrille. Und Benjamin ist schlau. Als er fünf Jahre alt war, brachte ihm seine Mutter das Spiel bei. Dann ging er in den Verein, übt zwei Mal in der Woche, einmal pro Woche kommt der Privattrainer nach Hause, für zehn Euro die Stunde, die Eltern zahlen. „Ich habe die erste Partie gewonnen“, sagt Benjamin nach nur 90 Minuten Spiel. Der Kampf sei hart gewesen. Ob er Vorbilder hat? Benjamin schüttelt den Kopf.

Auf seinem Handy aber hat er Selfies von sich mit Großmeistern gespeichert, die er bei einem Schnellschachturnier kennenlernte. Eines zeigt ihn mit Magnus Carlsen. Was er an Schach mag? „Das Unberechenbare.“ Für ein Spiel, das von Berechnung lebt, klingt das fast schon weise.

Nominell ist Deutschland eine der stärksten Schachnationen der Welt. Die rund 2400 Vereine haben mehr als 90 000 Mitglieder, die Bundesliga hat höchstes Niveau. Aber unter den ersten 100 der Welt gibt es nur einen Deutschen, unter den ersten 50 gar keinen.

Barbara Pehnke ist eine von drei Trainern der „SG Lasker Steglitz-Wilmersdorf“. Sie ist 75 Jahre alt, hat erst 2011 ihren Trainerschein gemacht, war Anfang der 80er Jahre Berliner Meisterin. „Schach muss Spiel bleiben“, sagt sie. „Die Kinder dürfen die Schule nicht aus dem Blick verlieren, sollten Abitur machen und ihr Studium zu Ende bringen.“ Pehnke versteht das als Warnung. Im Alter von acht bis 14 würden viele Kinder von ihren Eltern angetrieben, „und von 14 bis 18 treibt sie dann die Sucht“.

Ja, Schach kann süchtig machen. Auch gibt es unter den Spielern viele Einzelgänger. Während Gleichaltrige an Sommertagen ins Freibad gehen, vertiefen sie sich in Endspielbücher oder zocken stundenlang online. Manche lockt auch das meist bescheidene Preisgeld. Vom Schach leben können allenfalls Groß- oder Weltmeister. Andere, die es versuchen, enden im Schach-Prekariat, ohne Ausbildung und geregelten Tagesablauf. In fast jedem Verein kennt man solche Schicksale.

Wie hält man die Balance aus Breitensport, Spitzenförderung und Kindeswohl? Als positives Beispiel gilt Vincent Keymer aus Rheinland-Pfalz. Der Elfjährige, der bei fast jedem Spiel ein T-Shirt mit einem Tiger-Motiv drauf trägt, ist Deutschlands größtes Talent. Mit fünf Jahren fing er an, nach zwei Monaten besiegte er den Vater. Bei der sogenannten Kadetten-Weltmeisterschaft in der Altersklasse U12 belegte er den fünften Platz. Vincent hat aktuell 2402 Elo-Punkte – und ist damit stärker, als es Magnus Carlsen in seinem Alter war.

Vincent übt 20 Stunden pro Woche. Er hat einen Trainer, der von einem Sponsor bezahlt wird. Seine Eltern versuchen, ihn von der Presse fernzuhalten. Außerdem achten die Eltern darauf, dass Vincent zum Ausgleich Fußball, Basketball und Tischtennis spielt. Vincent ist ein Kind, führt aber nicht das Leben anderer Kinder. Manchmal fehlt er wochenlang in der Schule. Den Lehrstoff holt er so intensiv nach, wie er zuvor Schach gespielt hat. Bislang funktioniert das gut.

Der Preis? "Man überspringt die Kindheit"

Doch funktioniert es auch bei anderen? Trainer, Eltern, Schachmeister beantworten diese Frage fast nie pauschal, sondern allenfalls individuell: Im Prinzip ja, aber die Familie muss dahinterstehen, die Eltern flexibel sein, das Kind Lust am Schach haben. Außerdem sollte es zu Turnieren von festen, pädagogisch geschulten Trainern begleitet werden, die darauf achten, dass es auch noch andere, kindgerechtere Interessen verfolgt.

Am Olivaer Platz hat Michael Richter vor zehn Jahren eine Schachschule gegründet. Inzwischen hat der Großmeister zwei weitere Lehrer engagiert, rund 100 Kinder lernen bei ihm, knapp 15 betreiben Leistungsschach. Drei Deutsche und acht Berliner Meistertitel haben seine Schüler errungen. Richter trainiert zudem bundesweit Schüler via Skype. „Einer davon ist erst neun. Mit ihm bin ich um 19 Uhr 15 übers Internet verabredet, wir lernen eine Stunde, dann zieht er den Schlafanzug an und geht ins Bett.“ Die Kinder, die er in seiner Schachschule unterrichtet, bekommen Hausaufgaben auf, sie müssen regelmäßig verschiedene Stellungen am Demonstrationsbrett bewerten.

Neun Schüler zwischen acht und zehn Jahren sind an diesem Tag gekommen. Sie sitzen nebeneinander und rufen Richter ihre Berechnungen zu: „König nach d7, dann nach e7, das deckt den Läufer auf f6, der von dort aus das Umwandlungsfeld a1 kontrolliert.“ Die Kinder, sagt Richter, würden heute schneller stärker. Das läge auch an den Trainingsmöglichkeiten, etwa an den Computern, mit denen überall geübt werden könne. Zigtausende Datensätze über Eröffnung, Mittel- und Endspiel sind abrufbar.

Richter war ein Schach-Nerd, wie er selbst von sich sagt. Schach war sein Leben, der Ehrgeiz trieb ihn an. „Ich fand das toll, mit 15 schon die Welt zu sehen, überall auf Turnieren zu spielen.“ Allerdings werde man so auch schnell erwachsen, „man überspringt die Kindheit“. Aber müssen nicht alle Kinder für die intensive Ausbildung einer besonderen Fähigkeit – ob beim Musizieren, Schwimmen oder Ballett – einen Preis zahlen? Von einem oder zwei seiner extrem talentierten Schüler könnte Richter sich vorstellen, dass sie Profis und für Turniere aus der Schule genommen werden könnten. „Aber raten würde ich das niemandem“, fügt er sogleich hinzu. „Die Verantwortung übernehme ich nicht.“

Klack. Wieder Ruhe. Schach sei ein ehrlicher Sport, hat Schulreferent Reiser gesagt. Jede falsche Entscheidung – auf dem Brett und in der Schachkarriere – wird bestraft. Manchmal hart.

Klack. Das Mädchen schaut auf das Brett. Steht auf, rennt raus. Ja, ihr Gegner hat es gemerkt – und setzt sie matt.

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