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Textilstadt Prato: „Made in Italy“ - Der Etikettenschwindel

In den Kleidern, Jacken, Mänteln steht „Made in Italy“. Und das stimmt sogar. Sonst aber nichts: In der Textilstadt Prato hat sich eine chinesische Parallelwelt gebildet. Sie beschäftigt illegale Arbeiter und macht ihre eigenen Gesetze.

Stofffetzen und Laub ballen sich an verstopften Gullys, im Winterregen zerfließen Kartongebirge vor übervollen Müllcontainern. Hinter den offenen Rolltoren stehen Kleiderstangen an Kleiderstangen, und an denen hängt die Mode der Saison: kurze Mäntel, lange Strickjacken, luftige Trägerkleidchen. Grau ist das Meiste in diesem Jahr und vor allem billig.

Die Straßen hier sind nach Kalabrien und Piemont, Apulien und dem Veneto benannt. Es ist das italienische Viertel – doch Italiener gibt es hier nicht mehr. Im Industriedistrikt der toskanischen Textilstadt Prato reihen sich chinesische Läden aneinander, die verkaufen, was in den rückwärtigen Fabriken produziert wird.

Junge Chinesen begleiten potenzielle Einkäufer lächelnd, aber auch misstrauisch zu den Waren. Sie nennen Preise von fünf, sechs, acht Euro pro Kleidungsstück, und sie weisen auf die Etiketten hin, die nach außen geklappt sind: „Made in Italy“ steht da oder: „zu 100 Prozent in Italien gefertigt“. Was stimmt. Aber es ist ein chinesisches Italien.

Roberto Cenni, der Bürgermeister des anderen, des italienischen Prato, residiert unter einem bunten, hoch gewölbten Freskenhimmel. Zum Fenster schaut die Statue von Francesco Datini herein, jenes mittelalterlichen Tuchmachers, Händlers und Spekulanten, der das Urbild des Prateser Industriellen darstellt. Mit Unternehmern seines Schlags ist Prato groß geworden, Textilzentrum Europas, Weltmonopolist gar bei einigen Stoffen. Bis China kam. Und die Krise.

„Unsere Situation“, sagt der Bürgermeister, „ist einzigartig in Europa. Normalerweise kommen Ausländer ins Land, wenn man Arbeitskräfte braucht. Prato aber hat massiv an Arbeitsplätzen verloren, und zur selben Zeit sind immer mehr Chinesen eingewandert.“ Praktisch aus dem Nichts hätten sie eine komplett eigene Wirtschaft aufgebaut, so dass es in Prato nun zwei Industriedistrikte gebe: einen chinesischen und einen italienischen.

Diese Entwicklung lässt sich an den wirtschaftlichen Kennzahlen ablesen. Prato hat in den vergangenen 20 Jahren den Export halbiert; gut die Hälfte der einst 8100 Firmen existiert nicht mehr; verloren gegangen ist innerhalb von zehn Jahren mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze, 10 000 in der Stadt selbst, 20 000 in der Region. Im selben Zeitraum sind etwa 4500 chinesische Firmen entstanden, bevorzugt in der Bekleidungsindustrie, genauer gesagt in dem, was man in Italien „pronto moda“ nennt: schnell gefertigte, schnell wechselnde Artikel, verkauft an Händler aus ganz Europa, Hauptsache billig.

Mit geschätzten zwei Milliarden Euro erzielen Pratos Chinesen heute fast genau den Jahresumsatz, den die Pratesi selbst verloren haben. Und eine Krise kennen die Zuwanderer nicht, im Gegenteil. 20 000 von ihnen leben legal in der Stadt, weitere 25 000 oder gar 30 000 sind illegal da, Schwarzarbeiter, die ausgebeutet werden. Das Prato ist damit zu einem Viertel chinesisch.

„Die Chinesen sind so nette Leute“, sagt eine Frau auf dem Domplatz der Stadt. Fleißig seien sie und fröhlich. „Sie stehlen nicht, verkaufen unseren Kindern keine Drogen, überfallen sich höchstens gegenseitig.“ Doch sie sagt auch: „Sie machen unsere Stadt kaputt. Sie kaufen alles auf. Bald sieht’s hier aus wie in Hongkong.“ Und jeder spricht vom Reichtum, den manche Chinesen zur Schau stellen. „Wenn Sie drei Porsche Cayenne sehen, dann können Sie Gift drauf nehmen: Die sind alle drei von Chinesen“, sagt ein Unternehmer. „Und unsere Arbeitslosen müssen von der Rente ihrer Eltern leben“, ergänzt ein Textilingenieur. „Das können sich die Chinesen alles nur leisten, weil sie auf die Gesetze pfeifen und keine Steuern zahlen“, sagt eine Lehrerin.

Der Bürgermeister hat versucht, die ärgsten Alltagskonflikte per Dekret einzudämmen: Ladenschilder müssen auch in italienisch abgefasst sein; das geruchsintensive Trocknen von Fleisch und Fisch auf den Balkonen ist verboten, und gleich außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer, wo Chinatown beginnt, ist nun um 24 Uhr Sperrstunde für alle Geschäfte. Das italienische Prato sperrt um 19 Uhr 30 zu.

Die Pratesi haben nun zum ersten Mal seit 63 Jahren eine rechte Stadtregierung gewählt – den linken Verwaltungen zuvor lasteten sie das unkontrollierte Wuchern Chinatowns an –, aber Fachleute halten keineswegs Ausländerfeindlichkeit für das Problem, sondern die „zum System erhobene Illegalität“ und die „menschenunwürdigen Zustände“, unter denen viele Chinesen arbeiten.

Die Journalistin Silvia Pieraccini hat sich in diese Welt weiter vorgewühlt als jeder andere – und ein Buch geschrieben über die Mechanismen, mit denen die Chinesen zu Reichtum kommen. Mindestens die Hälfte der zwei Milliarden Jahresumsatz, dessen sind sich Pieraccini und die Polizei gewiss, kommt illegal zustande. Stoffe werden am Zoll vorbei ins Land geschmuggelt, ganze Schiffsladungen innerhalb eines Wochenendes verarbeitet und verkauft, ohne Rechnung, ohne Beleg. Steuerforderungen durchzusetzen ist den Behörden praktisch unmöglich: Ein chinesischer Betrieb, der sich im Visier der Fahnder weiß, schließt sofort – und der Bruder, der Schwager, der Onkel, der am Tag darauf eine neue Firma ins Handelsregister einschreibt, ist für die Versäumnisse eines früheren Unternehmers nicht zu belangen. Auf den Firmenschildern im Industriegebiet stehen nur Handynummern, genauso wie auf den Stellenanzeigen, die in Chinatowns Supermärkten hängen, vor denen sich abends nervös rauchende Chinesen drängen.

Laut der Italienischen Nationalbank werden aus Prato jeden Tag 1,2 Millionen Euro nach China überwiesen. Dabei erfasst die Nationalbank nur jene Geldtransfer-Büros, die amtlich registriert sind, nicht etwa jene verschwiegene Buchhaltung, über die laut Polizei in einem einzigen Monat 2009 mehr als sieben Millionen Euro geflossen sind. Dass Geldwäsche im Spiel ist, erscheint den Ermittlern offenkundig; mancher vermutet, Prato sei ein chinesisches Finanzzentrum in Italien. Inzwischen laufen auch Ermittlungen gegen Polizisten, die womöglich in den Geschäften mitmischen, statt sie zu bekämpfen.

Regelmäßig hebt die Polizei versteckte Nähereien aus, in denen junge Chinesen und Chinesinnen auf engstem Raum zusammengepfercht leben, essen, schlafen und arbeiten: unter prekären hygienischen Bedingungen, mit improvisierten Gasheizungen, bis zu 18 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, zwei, drei Jahre lang – bis eben die zehntausend Euro oder mehr abbezahlt sind, die der illegale Einwanderer seinen Schleusern schuldet.

Das unsichtbare Heer der Schwarzarbeiter sei so groß, sagt Silvia Pieraccini, „dass die Chinesen in Prato jeden Tag eine Million Kleidungsstücke nähen können, also mehr als 360 Millionen pro Jahr“. Das „Made in Italy“ hat in diesen Fällen formal seine Berechtigung, „aber bei den Regeln, unter denen da produziert wird – mitten in Europa und in einer Zone mit den am härtesten erkämpften, stärksten Arbeiterrechten –, da stellen sich mir die Haare zu Berge.“

„Die Chinesen arbeiten viel, damit sie ihre Reisekosten zahlen und ihren Familien zu Hause umso mehr Geld überweisen können“, sagt dagegen ein chinesischer Arzt, der beim Ausländeramt der Stadt Prato als Behördenhelfer für seine Landsleute arbeitet. Die Leute seien jung, und sie seien nicht gezwungen worden, nach Italien zu gehen. Auch bei der chinesisch-italienischen Organisation Associna wehrt man sich gegen den Vorwurf einer verdeckten Sklaverei. Ausbeutung ja, aber Selbstausbeutung. Schließlich seien die Chinesen nicht an die Nähmaschinen gekettet. Und sie hätten ein Ziel: Sie wollen selber Unternehmer werden und ihrerseits andere Chinesen beschäftigen. Das erzeugt unter den Arbeitern ein Klima ohne Solidarität. Wer krank wird, fliegt raus. Faktisch ist die Belegschaft ihrem Arbeitsvermittler ausgeliefert. Er stellt den Nähern Wohnraum, Arbeit, Essen. „Bricht ein Element raus, bricht alles auseinander“, sagt Idalia Venco, die Caritas-Direktorin in Prato, und hofft darauf, „an die zweite Generation heranzukommen, an die Chinesen, die auf italienische Schulen gegangen sind“. Dann sagt sie den Satz, den in Prato viele sagen: „Wenn die Chinesen nicht nach Prato gekommen wären, hätte uns die Krise viel härter erwischt.“

Denn auch wenn viele Pratesi wegen der Krise ihre Firmen schließen mussten, gelang es ihnen doch zur selben Zeit, ihre Fabrikgebäude, ganze Industriegebiete und Wohnhäuser an die aufstrebenden Prato-Chinesen zu vermieten. Die zahlen jede Summe, und sie zahlen in bar. Umgekehrt haben einige Pratesi den Weltmarkt genutzt, um Bekleidung in China herstellen zu lassen. So will auch Riccardo Marini, Chef des Industriellenverbands, festgehalten haben, dass nicht die Chinesen in Prato das Problem sind. Im Gegenteil: Beide Teile – Stoffproduzent der eine, Modefabrikant der andere – „könnten sich hervorragend ergänzen, wenn die Chinesen nur zur Zusammenarbeit und zum Respekt vor Recht und Gesetz bereit wären. Sie sollen wissen, dass sie jederzeit zu uns kommen können.“

Das wollen sie offenbar nicht. Die Internetseite, die der Industriellenverband eigens ins Chinesische hat übersetzen lassen, ist bisher nicht angeklickt worden.

Es gibt Vorschläge, wie Pratos Chinatown aus der Illegalität geholt werden könnte. Die Rechtspopulisten von der Lega Nord sagen, man müsste nur mal das größte Industriegebiet abriegeln, jeden Lastwagen kontrollieren und das Fehlen von Dokumenten unverzüglich mit Geldbußen ahnden. Marini sagt, innerhalb von zwei Wochen könnte man damit die ganze chinesische Produktionsmaschinerie aushungern. Aber das wolle die Regierung in Rom nicht, um die Beziehungen zu China nicht zu beschädigen.

Womöglich wollen es auch die Pratesi nicht: Es wäre der Anfang eines Handelskriegs, den sie kaum gewinnen werden.

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