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Gisela Wenning und Marion Kranzusch

© privat

Gisela Wenning und Marion Kranzusch: Wenn’s schlimm ist, tun wir ein Pflaster drauf

Die große und die kleine Schwester. Es einte sie der Widerstand gegen die Mutter und die Hoffnung auf das große Glück

Die große Schwester: Andere konnte sie trösten

Ohne ihre kleine Schwester Marion hätte ihr ein Lächeln im Leben gefehlt. Gisela war zwar das Kind einer großen Liebe, aber in einer sehr unglücklichen Zeit. Die Stadt ihrer Geburt, Dresden, wurde durch Bombenangriffe zerstört. Der Vater starb im Krieg, ohne seine Tochter je gesehen zu haben. Die Mutter heiratete erneut, sie suchte ein Zuhause. Marion, die Schwester, wurde geboren, aber die neue Ehe hielt nicht, nach vier Jahren verließ der Stiefvater die kleine Familie. Die Mutter zog nach Köln, blieb allein mit den Töchtern.

Gisela war fortan das Kind des guten Mannes, der verlorenen Liebe; ihre Schwester Marion hingegen das Kind des bösen Mannes, der die Familie für eine jüngere Frau verlassen hatte. Aber die Halbschwestern ließen sich nicht gegeneinander ausspielen, sie liebten einander und ließen sich nicht allein, ein Leben lang. So gegensätzlich sie auch waren, es einte sie der Widerstand gegen die Mutter und die Hoffnung auf das große Glück. Marions Träume waren backfischhafter Art, wo sich Herz nicht auf Schmerz reimte, und Träume nicht auf Schäume, sondern die Welt als Ganzes mit einem Lächeln umarmt wird.

Giselas Traum hingegen war es, als Krankenschwester im Albert-Schweitzer Lepra Krankenhaus in Lambaréné, Gabun, zu arbeiten, aber die Mutter bettelte und drängte, sie nicht zu verlassen. Gisela gab nach, nicht ohne Widerstand. Sie entzog sich nach und nach, indem sie Karriere machte.

Sie war eine sehr gute Krankenschwester, eine selbstbewusst auftretende Frau, umworben von vielen, aber sie ließ sich Zeit mit der Wahl eines Partners. Und entschied sich dann mit Herz und Kopf gleichermaßen für einen Mann aus der Ferne, einen Isländer, der in Deutschland studierte. Da war sie Ende zwanzig, erwachsen, so wie er. Sie gab alles auf, folgte ihm ohne Zögern auf die Insel. Das neue Leben, das Glück so nah. Da entzog er ihr seine Hand mit den dürren Worten, es sei keine Liebe, nur Freundschaft. Die Worte brachen ihr das Herz.

„Ist nicht schlimm, und wenn’s schlimm ist, tun wir ein Pflaster drauf“. Andere konnte sie stets trösten, sich selbst konnte sie nur mit sehr, sehr viel Arbeit auffangen. Von der diplomierten Krankenschwester brachte sie es zur leitenden Stationsschwester und schließlich zur Pflegedienstleiterin mit Verantwortung für viele Mitarbeiter und Patienten. Wenn Schwester Gisela nahte, hörte man es schon am energischen Schritt. Dass sie nicht immer so stark war, wussten nur wenige. Ihr Glaube würde sie über die dunklen Phasen hinwegtragen, so hoffte sie, die Konfirmationsurkunde lag stets auf dem Schreibtisch. Kleine Fluchten verschafften ihr Atempausen, die Wanderreisen, die Urlaube in Südtirol.

Zuhause aber blieb sie ihrer großen Liebe Island treu. Sie war skandinavisch schlicht eingerichtet und kleidete sich gern mit Islandpullovern. So nordisch klar die Inneneinrichtung, so sentimental die Sammlung an Erinnerungsstücken, Mitbringsel von den Reisen, Postkarten der vielen Freunde und Verwandten an der Pinnwand. Sie hatte alles im Besitz, was für einen größeren Haushalt nötig gewesen wäre und zeigte es gern bei ihren Festessen. Die Messerbänkchen, die Schneckenteller, die feinen Servietten. Sie kochte gut und gern, und lud häufig ein zu sich.

Aber kein Mann kam ihrem Herzen mehr nah. An Weihnachten bat sie stets ihre kleine Familie zu sich, Marion und ihre Nichte Nicole, immer mit Partnern. Alle durften sich in Jogginganzug und Wollsocken kleiden. Sie hat viele Socken gestrickt in ihrem Leben und viele Briefmarken gesammelt. Und vor allem Clowns und Pierrots, denn deren Lachen, so fühlte sie, verbarg auch nur eine große Traurigkeit.

Anders als ihre kleine Schwester, hielt sie sich allerdings von Lyrik fern. Sie schrieb auch kein Tagebuch, sie sammelte Sprüche, Weisheitssprüche, kleine prosaische Mutmacher, gern auch in Liedform, vorgetragen von Hannes Wader oder Konstantin Wecker. Sie war sehr vernünftig in allem, spielte sehr gut ihre Rollen, hinter denen sie sich bis zuletzt verbarg.

Zu ihrem fünfzigsten Geburtstag wurde ihr von ihren Mitarbeitern eine Island-Reise geschenkt. Sie sah die Insel mit Freude wieder, aber ihn traf sie nicht. Es gab nichts zu verzeihen. Verrat blieb Verrat.

Die eine Liebe immerhin war geblieben, die zu ihrer Schwester. Sie war nie eifersüchtig auf deren Unbekümmertheit, hat ihr nie etwas geneidet. Nach ihrer Pensionierung zog Gisela nach Berlin, um in Marions Nähe zu sein. Sie unternahmen viel, anfangs, aber die Folgeschäden der schweren Arbeit als Krankenschwester schränkten sie in ihren Bewegungen ein. Operationen verweigerte sie. Als sie schließlich zum Pflegefall wurde, stellte sie sich mit vollem Bewusstsein auf das Ende ein: „Das Pflegebett sieht aus wie das Sterbebett“.

Sie leistete alle nötigen Unterschriften für die Vollmachten an ihre Schwester und die Nichte, und als die letzte vollzogen war, stellte sie ihre Schuhe ordentlich vors Bett, legte sich nieder und starb im Schlaf. Ihren Körper spendete sie der Charité, weshalb sie ihre letzte Ruhe erst anderthalb Jahre nach ihrem Tod fand.

An und um ihren Sarg, aufgebahrt in einer Kapelle, hatte die Nichte all die Postkarten geheftet, die ihre Freunde ihr geschrieben hatten. Als Abschiedslied ertönte der „Schwanenkönig“ von Karat. Dieses Lied liebte sie, weil es sie an das isländische Märchen „Dimmalimm“ erinnerte, in dem von einem Mädchen erzählt wird, das sich brav um alle kümmerte, besonders um die Schwäne im nahen Teich, um einen ganz besonders, denn sie fühlte, er war anders. Ein Verzauberter, ein Prinz, und sie würde eines nicht allzu fernen Tages seine Prinzessin werden. Aber so geschah es nur im Märchen.

Bestattet wurde ihre Urne unter einer Birke, wie sie es sich gewünscht hatte, denn die Birke ist, wie jeder Isländer weiß, der Baum der Liebe, des Lebens und des Glücks.

Die kleine Schwester: Immer fand sie etwas Staunenswertes

Ohne ihre große Schwester hätte ihr der Halt gefehlt im Leben. Denn sie war eine Träumerin. Eine, die an ihr Glück glaubte, ganz fest. Und wenn dunkle Tage kamen, summte sie Udo Jürgens: „Denn immer immer wieder geht die Sonne auf.“ Ihr Vater Bernhard hatte die Familie im Stich gelassen. Aber anders als ihre Mutter hasste sie ihn nicht dafür, sie liebte auch ihre drei anderen Halbgeschwister, aber am engsten verbunden war sie mit Gisela. Auch wenn die sie immer zur Eile drängte, weil Marion auf Schritt und Tritt etwas Staunenswertes sah, was sie innehalten ließ: Oh, ein Schmetterling!

Ihr Glück war es, in Köln aufzuwachsen. Das hat sie auch früh begriffen, denn auf all ihren Kinderbildern lacht sie, als wäre das ganze Leben Karneval. Dank ihrer großen Schwester, die stets auf sie achtgab, ist ihr das Lachen auch selten vergangen. Es kamen hin und wieder Tränen dazu, weil sie sich gern verliebte. Aber ihren Kummer konnte sie ihrem Tagebuch anvertrauen, oder sie machte sich einen Reim darauf, indem sie Gedichte schrieb. Keine Verse für die Ewigkeit, sie lebte für den Moment. Im Hier und Jetzt fand sie das Glück. Das konnte ihr selbst die strenge Mutter nicht verleiden, auch wenn sie furchtbar enttäuscht tat, als sie ihre Tochter beim Knutschen erwischte. Aber Marion wusste, Frösche muss man küssen, sonst werden sie nie Prinzen.

Mit 20 heiratete sie und wurde Mutter, da war sie aber eigentlich noch ein Teenager. Selbst als sie auf die 30 zuging, verlangten die Türsteher von ihr noch den Ausweis. Ihr Mann kümmerte sich wenig um sein Kind, also trennte sie sich nach vier Jahren von ihm. Sie zog mit Nicole in eine kleine Wohnung, schlief in der Wohnküche und überließ der Tochter das große Zimmer. Sie wollte eine Freundin sein, ganz anders als ihre strenge Mutter.

Gearbeitet hat sie als Drogistin, was ihr jeden Tag eine kleine Bühne bot. Eine Frohnatur ist etwas, was man sich hart erarbeiten muss. Mit 16 hatte sie angefangen Tagebuch zu schreiben, und sie tat es bis an ihr Lebensende, um sich Mut zu machen. Denn so einfach war es nicht, alleinerziehend. Gelegentlich musste sie sich einen von Giselas Glaubenssätze borgen, der wiederum von Scarlett O‘Hara geborgt war: „Schließlich, morgen ist ein neuer Tag!“ Noch lieber war es ihr, wenn sie sich einen Reim auf die Dinge machen konnte. So gewann sie den ersten Preis beim Lyrikwettbewerb für Reinigungs- und Waschmittel der Marke Ecover, was ihr ein Jahr lang Waschmittel frei Haus einbrachte.

Was sich reimt, das fügt sich. Nur in der Liebe ist das nicht so leicht. Auch ihre zweite Ehe hielt nicht sehr lange. Sie brachte eine Tochter zur Welt, Nadine. Eine schwierige Geburt, Kaiserschnitt. Sie kämpfte um ihr Leben und um das des Kindes. Aber das Kind starb vier Wochen später. Der Schmerz war groß, zu groß für Vater und Mutter gemeinsam. Wenn Marion litt, dann tat sie das meist für sich. Wenn sie sich freute, dann immer mit anderen.

Schließlich, Udo Jürgens blieb ihre große Liebe. Aber ihr Herz war weit genug, um alle kölschen Kamelle-Sänger darin unterzubringen. Sie war verrückt nach Karneval, wurde ausgezeichnet mit Orden, blaue Funken, rote Funken, die sie alle aufhob. „Jede Jeck is anders“, und passt dennoch zum anderen, weil Schunkeln ist wie Reimen. Marion blieb Kölnerin zeitlebens, auch wenn sie der Liebe wegen nach Berlin zog.

Zuvor war sie mitunter versucht, die Frösche lieber an die Wand zu klatschen, als sie zu küssen. Bis Rainer in ihr Leben trat. Den sie in der Kur traf. Ein Jurist, sehr nüchtern. Der eindringlich um sie warb. Sie wies ihn darauf hin, was sie vom Leben erwartete, Glück im Übermaß. Er tat sein Bestes, schenkte ihr zur Hochzeit eine Ballonfahrt samt Urkunde „Prinzessin Marion, tapfere Windbraut in den Wolkenschlössern von Kemnitz“. Da blieb sie allerdings nicht lange, sondern zog mit Rainer nach Dahlem, dann weiter nach Ludwigsfelde. Aber die kölsche Repräsentanz in Berlin, die „Ständige Vertretung“, war ihr gefühltes Zuhause, nicht nur im Karneval.

Diese dritte Ehe hielt am längsten, 30 Jahre. Sie liebte die Toskana und Venedig, die Sonne und das Meer vor allem, denn in ihr war die Sehnsucht nach Glanz wie bei ihrer Lieblingsheldin Désirée, die es kraft ihrer Träume sogar zur Königin gebracht hatte. Rainer wurde lungenkrank, was ihm Marion an dunkleren Tagen persönlich verübelte: Mit dir ist nichts mehr los, ich wollte doch noch so viel erleben. Da war sie grausam zuweilen und dann wieder aufopferungsvoll bis zur Selbstaufgabe. Sie ließ ihn nicht im Stich, sie ertrug auch seine Depressionen, obwohl sich ihre Träume von Tag zu Tag grauer einfärbten.

Sie hat sich auch um ihre Schwiegermutter gekümmert, als die krank wurde, und um ihre Schwester, als deren Lebenswille schwand. Bis sie selbst die Kraft verließ. Sie hat immer gern geraucht, eine Schachtel am Tag, stets mit Spitze, auch in der Gegenwart ihres kranken Mannes. Drei Wochen nach der Silberhochzeit kollabierte Rainer im Wohnzimmer. Der Notarzt kam, versuchte ihn zu reanimieren, sie sah das von der Couch mit an. Rainer kam noch ins Krankenhaus, wo er wenig später starb, wie ihr am Telefon mitgeteilt wurde. Erst im Monat zuvor war ihre Schwester beigesetzt worden. Der Kummer lähmte sie, das Laufen fiel ihr schwer. Aber sterben wollte sie nicht. Sie hatte sieben Leben, wie ihre Katzen, die sie stets begleitet hatten. Doch was in ihrem Kopf vorging, unterschied sich von dem, was im Herzen geschah.

Vor ihrem Tod hat sie nur noch drei Zigaretten am Tag geraucht. Die Lebensfreude war geschwunden. Sie hörte auf, zu essen und zu trinken. Der Arzt drängte sie, ins Krankenhaus zu gehen: Sie wollen doch leben! Ja, noch fünf Jahre, gab sie zur Antwort und blieb daheim. Ich versteh das nicht, murmelte sie vor sich hin. Sie verstand sich nicht. Ins Krankenhaus wollte sie nicht, weil Rainer da gestorben war. Sie wollte noch ein wenig glücklich sein, das war ihr fester Wille, aber ihre Seele sehnte sich fort, zu ihrer Schwester und zu ihrem Mann.

Sie hatte immer eine Seebestattung gewünscht, und Rainer hatte sich dem gefügt. Ihre Tochter richtete ihr eine Trauerfeier auf einem Pferdehof aus, denn Marions Abschied sollte lebensfroh sein, bevor sie gemeinsam mit Rainer dann doch noch auf große Fahrt ging.

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