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Wer hat hier noch den Durchblick? Berlin braucht dringend ein effektives Stadtmanagement.

© imago images / Dirk Sattler

Stadtmanagement: Berlin ist organisatorisch auf dem Stand von 1920

Strukturen von vor 100 Jahren verhindern die Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Leitbilder für die Stadt von morgen. Ein Gastbeitrag.

Wenn es Wochen dauert, eine Parkvignette zu bekommen, wenn sich keiner für eine Entscheidung über einen Gehwegpoller zuständig hält und wenn „Verkehrslenkung“ nur als Mobilitätsbehinderung erfahren wird, dann stimmt etwas nicht.

„Management“ bedeutet, dass zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen von der Person getroffen werden, die dafür verantwortlich ist (oder dem entsprechenden Team). So etwas gibt es in Berlin leider als durchgehende Verwaltungsstruktur nicht.

Was heute als Missstand empfunden wird, beruht auf Fehl- und vor allem auf Nichtentscheidungen seit mehreren Jahrzehnten. Was jetzt wichtig ist: Gleiches darf in zehn, 20, 30 Jahren nicht auch für die heutigen Entscheidungen gelten.

Organisatorisch auf dem Stand von vor 100 Jahren

Berlin ist organisatorisch bis heute weitgehend auf dem Stand stehen geblieben, auf dem es vor 100 Jahren als drittgrößte Stadt der Welt gebildet wurde. Seine Strukturen waren damals notwendig, um die Integration von 96 Städten und Gemeinden überhaupt zu bewerkstelligen. Heute verhindern sie die Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Leitbilder für die Stadt von morgen. Die Anforderungen an eine Stadt sind heute ganz anders als vor 100 Jahren.

Über das, was heute in der Stadt geleistet wird, entscheiden in einem der größten Landesparlamente Deutschlands 160 Abgeordnete und gleichzeitig 660 Bezirksverordnete, die 60 Stadtratsposten nach jeder Wahl neu vergeben. Jede Partei, die in einem Bezirk in den Bereich von mehr als 15 Prozent der Stimmen kommt, hat das Recht auf eine Leitungsposition ohne definierte Qualifikation der Person.

Für welche Ämter die StadträtIn zukünftig Entscheidungen trifft, wird für jeden Bezirk anders ausgehandelt mit der Folge, dass zum Beispiel die Stadträtekonferenzen für Verkehr einerseits und Kultur andererseits nie gleichzeitig tagen können, weil in einem Bezirk eine StadträtIn beides macht, aber in allen anderen nicht.

Klaus-Martin Groth war unter anderem Umweltstaatssekretär im Momper-Senat.
Klaus-Martin Groth war unter anderem Umweltstaatssekretär im Momper-Senat.

© promo

Nach ähnlichen „politischen“ Kriterien werden in jeder Legislaturperiode zwischen dem Regierenden Bürgermeister und bis zu zehn SenatorInnen die 17 Verantwortungsbereiche, die das allgemeine Zuständigkeitsgesetz definiert, neu aufgeteilt. Dass bei dieser Organisation zum Beispiel weder für Verkehr noch für Umwelt oder Klimaschutz ein nachhaltiges stadtweites Management möglich ist, liegt auf der Hand. Schon terminlich können es die völlig unterschiedlich zuständigen StadrätInnen und die Senatorin nie schaffen, gemeinsame Entscheidungen zu fällen.

In jeder Stadt außer Berlin gibt einen für Mobilitätsfragen Verantwortlichen

Wie begegnet die Berliner Politik dieser Misere? Sie fordert für den ersten Einstieg in die Beendigung dieses Ressourcen-Wirrwarrs auf Bezirksebene als „Gegenleistung“ erst mal zwölf weitere Stadtratsposten. Da muss man sich über „Parteienverdrossenheit“ nicht mehr wundern.

Gravierender als das Organisationschaos ist das zusätzlich entstandene Steuerungsdefizit. Keine Stadt (und kein Bundesland) hat ein „Mobilitätsgesetz“. Aber in jeder Stadt außer Berlin gibt es eine Person, die letztendlich für alle Mobilitätsfragen politisch verantwortlich ist und das Recht hat, sich zur Not in jeder Einzelfrage durchzusetzen.

Steuern heißt, mit allen Akteuren der Stadtgesellschaft Ziele zu definieren, die in zeitlich und inhaltlich definierten Schritten messbar erreicht werden sollen, und dies dann auch in geklärten Verantwortlichkeiten anzugehen. Hierfür gibt es weder definierte Strukturen noch ist der alle Akteure umfassende Wille erkennbar, sie zu schaffen.

Ohne eine solche politische und rechtliche Klarheit weiß die Stadtgesellschaft noch nicht einmal, bei wem sie sich über Missstände beschweren müsste und wer verpflichtet werden könnte, sie messbar zu ändern, und dafür haftet, wenn es nicht klappt. Ohne erkennbar verantwortliche Ansprechpartner in Politik und Verwaltung erlischt dann natürlich auch das Engagement der Akteure der Stadtgesellschaft. Die Dinge werden hingenommen, wie sie sind.

Seit mehr als 40 Jahren gibt es Ideen und Aktivitäten, den dargestellten Zustand zu ändern. Welche Projekte kämen besser voran und für wen würde sich das auszahlen, wenn es eine effektive Organisation und Steuerung durch qualifizierte Personen gäbe? Nur im Rahmen dieser Fragestellung könnte sich etwas bewegen.

Eine klare Verantwortung für weiteres zukünftiges Scheitern möchte dagegen natürlich niemand organisieren. Ist dieser Pessimismus, dass man es sowieso nicht besser hinbekommt, der Grund für die Nichtreaktion auf die vielen Reformvorschläge?

Allein die BVV Steglitz-Zehlendorf hat 18 Ausschüsse

Selbstverständlich braucht eine Millionenstadt eine dezentrale Verwaltungsorganisation, örtliche Bürgerbeteiligung und -mitbestimmung. Dezentral heißt aber nicht anarchisch. Und Mitbestimmung heißt nicht, dass sich 660 Bezirksverordnete im regelmäßigen Streit untereinander und mit 160 Landesabgeordneten und den von diesen gewählten Senatsmitgliedern befinden sollten.

Die BVV Steglitz-Zehlendorf – zum Beispiel – hat 18 Ausschüsse, die alle jeweils von allen BVV-Fraktionen nach Proporz besetzt sind und so schöne Namen wie „Ausschuss für Grünflächen, Umwelt und Bürgerbeteiligung“ haben. Dieses Ausschusswesen und die Tatsache, dass in allen Bezirken unterschiedlich die Stadträte zu jeweils einer großen Zahl von Ausschüssen „gehören“, die ihrerseits aber auch wieder gleichzeitig ganz andere Themen bearbeiten, ist das Gegenteil nicht nur eines effektiven Stadtmanagements, sondern auch einer Bürgerbeteiligung.

Auf zentraler Ebene sieht es ähnlich aus. Eine Verantwortung kann auf diese Weise überhaupt nicht zugeordnet werden. Die verfassungsmäßige Pflicht der BVV zur „Kontrolle über die Verwaltung des Bezirks im Rahmen der Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ setzt voraus, dass es für alle Felder der Stadtpolitik solche verbindlichen Leitlinien gibt, an denen sich die Effektivität der Verwaltung messen lässt und an denen – statt an bezirkspolitischen Egoismen – sie auch gemessen wird.

Aktuelle und vorausschauende vollziehbare Rechts- und Verwaltungsvorschriften liegen wiederum in der Verantwortung der zentralen Ebenen. Inzwischen hat sich die Politik darauf eingestellt und findet es gut, dass es so etwas mit wirklicher Steuerungsqualität nicht gibt und Berlin so etwas eigentlich aufgrund seiner „bürgernahen Bezirksorganisation“ auch gar nicht braucht.

Die Politik bleibt hinter Reformnotwendigkeiten und -möglichkeiten zurück

In Frankreich ist die Effizienz städtischen Handelns zurzeit zentrales Thema eines landesweiten „Bürgerdialogs“. Dass dieser nicht von Politik, Gesellschaft und Verwaltung gemeinsam rechtzeitig begonnen wurde, sondern sich als Reaktion auf gewaltsame Proteste darstellt, sollte uns eine Warnung sein.

Sich hinter der deutschen (und speziellen Berliner) Dezentralität zu verstecken und die Verantwortung zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen hin- und herzuschieben, ist keine brauchbare Strategie.

Inhaltlich geht es darum, dass die Akteure der Stadtgesellschaft hinsichtlich der verschiedensten Aufgabengebiete die verbindliche Festlegung von Zielen einer nachhaltigen Stadtentwicklung einfordern. Das Abgeordnetenhaus muss zu seiner Aufgabe zurückfinden, die Zukunft der Stadt zu sichern und verbindlich die Strukturen festzulegen, die nötig sind, um nicht nur das besser zu machen, was heute schlecht ist, sondern auch das zu leisten, was notwendig ist, damit in Zukunft vieles noch besser und weniger noch schlechter wird.

Die Politik bleibt weit hinter den Reformnotwendigkeiten und -möglichkeiten zurück, weil die anderen Akteure der Stadtgesellschaft sie bisher nur eingeschränkt für gute Leistungen gelobt und belohnt und für schlechte getadelt und bestraft haben. Verantwortung kann nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf konkrete Projekte eingefordert und wahrgenommen werden.

Es müssen also gleichzeitig Leitbilder, Ideen, Ziele und Umsetzungsschritte für zum Beispiel die Mobilität, die Schule, den öffentlichen Raum von morgen definiert werden und Entscheidungs- und Leistungsstrukturen, die uns dahin bringen. Nur wenn uns beides gelingt, können wir behaupten, wir hätten ein Stadtmanagement. Erst mit einem solchen wären wir dann auf der Höhe der Zeit.

Die besondere Entstehungsgeschichte Berlins rechtfertigt nicht, sich heute von fast allen anderen Großstädten Deutschlands in der Qualität des Stadtmanagements und in der Nachhaltigkeit der Stadtentwicklung überholen zu lassen. Ziel muss sein, diese Erkenntnis allen zu vermitteln und jedenfalls hinsichtlich der wichtigsten Aufgaben der Zukunft für die Stadt Berlin und die Hauptstadt Deutschlands wieder eine Vorreiterrolle zu übernehmen.

Klaus-Martin Groth, 71, war Richter am Berliner Verwaltungsgericht und am Landesverfassungsgericht. Er war Umweltstaatssekretär im Walter Momper-Senat (1989-1991).

Das typisch Berlinische und bezirkliche Verwaltungschaos ist immer wieder Thema in unseren lokalen Newslettern "Tagesspiegel Checkpoint" und "Tagesspiegel Leute". Aber wir gehen dort auch immer wieder auf Dinge ein, die in Berlin und den Bezirken gelingen. Wir geben Menschen, die in unserer Stadt etwas voranbringen wollen, eine Stimme und initiieren stadtpolitische Debatten. Den berlinweiten Checkpoint-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren: checkpoint.tagesspiegel.de, die Leute-Newsletter aus allen zwölf Berliner Bezirken gibt es hier für Sie kostenlos: leute.tagesspiegel.de.

Klaus-Martin Groth

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