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Katerstimmung. Nach dem eindeutigen Ergebnis zugunsten eines EU-Ausstiegs (Brexit) protestieren proeuropäische Briten in London.

© imago/Bettina Strenske

Psychologie: Von Natur aus konservativ

Eine Frage der Werte: Warum sich viele Menschen mit der Moderne schwertun - und andere über sie jubeln. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hartmut Wewetzer

Brexit in Großbritannien, Donald Trump als US-Präsidentschaftskandidat, der Aufstieg rechter Parteien in Europa – es gärt in der westlichen Welt. Modernes, fortschrittliches Denken ist bei vielen Menschen anscheinend nicht mehr so recht gefragt. Am Ende war es die Debatte um Einwanderung und Flüchtlinge, die die Spaltung der Gesellschaft offenbarte und zugleich vertiefte – hier die Idee der multikulturellen Vielfalt, dort der Vorrang althergebrachter Gemeinschaft, von Nation und Volk (statt Bevölkerung).

Für den amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt von der New York University dürften diese Entwicklungen nicht überraschend kommen. Seit Langem blickt der Sozialwissenschaftler in den wachsenden Abgrund, der sich zwischen den politischen Gruppierungen Amerikas auftut. Zusammenarbeit über Parteiengrenzen hinweg ist dort mehr und mehr der Abgrenzung gewichen. Was Haidt ursprünglich vor allem für das Zwei- Parteienland USA feststellte, ist nun ein Problem vieler moderner Demokratien. Gemeinsam mit Kollegen hat der Psychologe mit der ebenso anregenden wie provokativen Theorie der moralischen Grundlagen ein Gedankengebäude errichtet, das die politischen Leidenschaften auf eine neue Weise verstehbar macht.

Der Mensch bewertet intuitiv, was gut und böse ist

Zunächst: Der Mensch kommt nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt. Das betrifft auch Fragen von Gut und Böse. Er besitzt von Natur aus moralische Intuition und urteilt rasch über das Verhalten anderer. Auch wenn er diese instinktiven Urteile im Nachhinein mit scheinbar vernünftigen Begründungen rechtfertigt.

Prägend für das moralische Empfinden war die menschliche Evolution. Sie schuf so etwas wie einen ethischen Kompass, der das Überleben ermöglichte und die Grundlage einer stabilen sozialen Ordnung legte. Der Sinn für Ethik ist im Menschen angelegt und wird durch Erfahrung ausgebildet. Er hat biologische Wurzeln, entfaltet sich aber in der Kultur.

Sechs ethische Grundlagen oder „Himmelsrichtungen“ haben Haidt und seine Mitstreiter bislang entdeckt: sich um andere kümmern; faires und gerechtes Verhalten; Freiheit; Loyalität zur eigenen Gruppe; das Anerkennen von Autorität; Reinheit und Heiligkeit. Diese Werte sind weltweit anerkannt, in jeweils anderen Nuancen und Ausprägungen. Es hat sich gezeigt, dass die Vorliebe einer Person für bestimmte moralische Maximen auch in der Hirnanatomie nachzuweisen war. Obwohl natürlich nicht jeder ethischen Grundlage ein bestimmter Platz im Gehirn zuzuweisen ist. Das wäre dann doch zu einfach.

Progressive finden es wichtig, sich zu kümmern und gerecht zu sein

Je nach politischer Ausrichtung werden unterschiedliche moralische Grundsätze bevorzugt, hat Haidt in Umfragen festgestellt. Progressiven sind vor allem die Kategorien „Sich kümmern“ und „Gerechtigkeit“ wichtig. Diese Werte sind universal, für alle Menschen gültig. Bei Konservativen treten zusätzlich „Loyalität“, „Autorität“ und „Reinheit“ hinzu. Letztere sind Tugenden, die den Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe (und damit deren Überleben) stärken. Sie sind also nicht universal.

Obwohl er sich selbst eher dem progressiven Camp zugehörig fühlt, attestiert Haidt damit der rechten Seite, dass sie einen umfassenderen Moralkodex besitzt, nämlich fünf statt zwei Grundlagen. Linke könnten einwenden, dass Werte wie Gruppenloyalität, Autoritätsgläubigkeit und Reinheitsideen in der modernen Welt nicht mehr viel verloren haben. Rechte könnten dagegenhalten, dass die menschliche Natur nun einmal so ist, wie sie ist.

Pluralismus: In Asien werden die Gegensätze vereint

Es liegt im Wesen der Politik, dass die Anhänger einer Ideologie sich für die Guten halten, die gegnerische Seite dagegen mehr oder minder böse ist. Jede Fraktion glaubt, recht zu haben. Wie entkommt man diesem Lagerdenken?

Haidt plädiert für einen Pluralismus der Werte. Und er empfiehlt einen Blick nach Asien, in dessen religiösen und philosophischen Traditionen das Miteinander gegensätzlicher Prinzipien bedacht wird. Etwa im alten China die Kräfte von Yin und Yang. Im hinduistischen Götterreich bilden der Bewahrer Vishnu und der Zerstörer Shiva Gegenpole im Ganzen.

„Wenn du willst, dass die Wahrheit klar vor dir steht, sei niemals dafür oder dagegen“, zitiert der Psychologe eine buddhistische Weisheit. Ein Schritt heraus aus dem Getümmel und ein gelassener Blick von außen: kein schlechter Rat in diesen Tagen.

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