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Die Bebauungsgegner eint das Misstrauen gegenüber dem Berliner Senat.

© Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Änderung des Tempelhof-Gesetzes: Wem geht es hier wirklich um die Flüchtlinge?

Es geht ihnen um die Tempelhofer Freiheit. Und das Wohl der Flüchtlinge. Heißt es. Doch tatsächlich wird bei den Bebauungsgegnern Politik gemacht wie gerade überall im Land. Zu Besuch bei Idealisten, Halbehrlichen und Garnichtehrlichen.

Gäbe es einen Preis für besonders skeptische Blicke, Joachim Kiau könnte sich Hoffnungen machen. Samstagnachmittag steht er etwas abseits der Menschenmenge, die sich in Berlin am Platz der Luftbrücke versammelt hat. Weil sein Wintermantel nicht zugeknöpft ist, sieht man die Krawatte. Unterm Arm trägt Joachim Kiau einen Aktenordner, darin befinden sich, ordentlich abgeheftet, all die Unterlagen, die er zum Thema gesammelt hat. „Ich bin doch hier wegen Tempelhof“, sagt er.

Die anderen werden gleich losmarschieren, einmal um das alte Flughafengebäude herum. Joachim Kiau wollte eigentlich mit. Aber dann entdeckte er das Schild, auf dem „Bleiberecht für alle“ steht. Und junge Schwarzgekleidete mit ihrem Banner, irgendwas von wegen „Festung Europa“.

Nein, mit solchen Gestalten möchte Joachim Kiau lieber nicht gesehen werden. „Ich bin nicht für Ausländer, und ich bin auch nicht gegen Ausländer. Ich bin für Tempelhof.“ Ein paar weitere skeptische Blicke, dann hat Joachim Kiau genug. Die Demo muss heute ohne ihn starten.

Wer mit wem, und aus welchem Motiv? Das ist oft unklar in diesen Tagen, wenn es um Flüchtlinge geht. Nirgendwo sieht man das besser als beim Streit um das Tempelhofer Feld.

Eigentlich ist der Konflikt klar: Beim Volksentscheid stimmte die Mehrheit für ein Gesetz, das eine Bebauung des Feldes verbietet, und nun möchte der Senat das Gesetz wieder ändern, um mehr Flüchtlinge auf dem Areal des ehemaligen Flughafens unterzubringen. Doch es haben sich fragwürdige Allianzen gebildet. Interessen kollidieren oder werden verschleiert. Und auch, wenn es sich gerade jeder auf die Fahne schreibt: Wer interessiert sich hier eigentlich wirklich für die Flüchtlinge?

Bei der Bürgerversammlung am vorigen Donnerstag, in der Haupthalle des Ex-Flughafens, scheint der Frontverlauf gut erkennbar. Hier die Senatsvertreter, dort 1400 empörte Bürger, die nicht hinnehmen wollen, dass der Volksentscheid nach nicht einmal zwei Jahren kassiert wird und dass statt der 2500 bald 7000 Flüchtlinge in Massenunterkünfte gesteckt werden sollen.

"Integration statt Ghettos"

Doch so einfach ist es nicht. Das weiß auch Kerstin Meyer von „100 % Tempelhofer Feld“ – also der Initiative, die den Volksentscheid gegen eine Feldbebauung im Mai 2014 durchgesetzt hat. Mit 30 anderen Aktivisten hat sie sich auf die Versammlung vorbereitet. Ihre schlimmste Befürchtung: dass der Abend von den sogenannten „besorgten Bürgern“ dominiert wird. Anwohnern, die möglichst wenige Flüchtlinge in ihrem Viertel haben wollen. Und dass die Versammlung dann so ein jämmerliches Bild abgibt, wie man es von ähnlichen Veranstaltungen etwa in Thüringen oder Sachsen-Anhalt kennt. Deshalb haben sich Meyer und ihre Mitstreiter einen Trick ausgedacht. Sie bedruckten 300 Pappschilder mit Slogans, die niemand missverstehen kann: „Integration statt Ghettos“ oder „Müller macht Flüchtlinge zu Menschen zweiter Klasse“. Die Schilder haben sie vor Beginn an jeden verteilt, der eines halten wollte. Sieht beeindruckend aus, und jedes Mal, wenn irgendein Fotograf seine Kamera zückt, gehen sofort die Schilder hoch. Trotzdem ist Meyer so nervös, dass sie sich den ganzen Abend über auf keinen Stuhl setzen mag.

In den folgenden zwei Stunden wird die krude Gemengelage unter den Gesetzesgegnern deutlich. Die einen wollen die Bebauung verhindern, weil man Flüchtlinge nur integrieren könne, wenn sie dezentral untergebracht werden. Andere glauben, die geplante Gesetzesänderung sei nichts weniger als ein Frontalangriff auf die direkte Demokratie. Revanche des Senats für seine Niederlage beim Volksentscheid. Wieder andere halten das neue Gesetz, das diesen Donnerstag im Abgeordnetenhaus beschlossen werden soll, für ein Trojanisches Pferd, für den Beginn der Zubetonierung des Tempelhofer Feldes. Schließlich gibt es auch diejenigen, die keine Flüchtlinge haben wollen, schon gar nicht in der eigenen Nachbarschaft. Das Problem ist, dass sich die Interessen überlagern, dass Haltungen und Motive nicht immer direkt erkennbar sind. Wie altruistisch, wie besorgt ums Flüchtlingswohl sind Menschen tatsächlich, wenn sie zu hunderten applaudieren, sobald einer in der Halle vorschlägt, die Flüchtlinge doch lieber im Schönefelder BER unterzubringen? Dort stünden schließlich genug Hallen leer!

Der Anwohner aus dem Tempelhofer Fliegerviertel, der Neuköllns Bürgermeisterin Franziska Giffey mit den Worten „Halt’s Maul, Laberkopf“ unterbricht, wird zunächst noch beklatscht. Als er dann selbst das Mikrofon hat und die Senatspläne mit dem Bau von Konzentrationslagern vergleicht, wird er von der Menge ausgebuht.

Wie wollen die Aktivisten weitermachen?

Fünf Tage später, im Café eines deutsch-arabischen Zentrums nahe der Karl-Marx-Straße. Kirsten Meyer und ihre Mitstreiter von „100 % Tempelhofer Feld“ wollen die Bürgerversammlung auswerten und neue Aktionen planen. Neonröhren unter der Decke, stilles Wasser in Plastikflaschen, die Tagesordnung wird mit Edding an die Wand geschrieben. Die meisten hier sind froh darüber, wie der Abend gelaufen ist. „Wir waren bundesweit in den Medien“, sagt einer. „Sogar in Holland“, ein anderer. Doch sie ahnen, dass dies die Gesetzesänderung nicht stoppen wird, dass nun zumindest zwei Flächen links und rechts des Vorfelds bis 2019 temporär bebaut werden dürfen. Wie also weiter? Winfried wünscht sich eine Analyse, will diskutieren, warum die „herrschende Klasse ihren Willen durchpeitscht“. Eine Aktivistin schlägt vor, jetzt eine Partei zu gründen, um den Regierenden Bürgermeister zu ärgern. Nee, bitte nicht, sagt Kerstin Meyer, es „gibt doch nichts Elenderes, als im Parlament abzuhängen“.

Sollte das Gesetz verabschiedet werden, will die Initiative Druck machen, damit der Senat zumindest seine Integrationszusagen einhält. Versprochen sind Orte, an denen sich Anwohner und Flüchtlinge kennenlernen können, unter anderem soll ein großes Zelt aufgestellt werden. Auch die Turngemeinde „Tib“ am Columbiadamm will sich engagieren. Bisher gibt es wenig Kontakte zu den Menschen in den Nachbarkiezen. Weil auf dem Gelände immer noch zu wenig Duschen angeschlossen sind, bieten jetzt Nachbarn an, ihre Badezimmer zu benutzen. Anwohnerin Celine Decker aus der nördlich angrenzenden Friesenstraße sagt, wer keine Nachrichten verfolge, käme gar nicht auf die Idee, dass in den Hangars bereits 2500 Leute lebten. „Man trifft sie nicht auf den Straßen, nicht in den Cafés oder Bäckereien.“ Wie sollten diese Menschen auch am gesellschaftlichen Leben teilhaben – ohne Geld zum Ausgeben? „Man sieht sie nicht mal auf dem Columbiadamm, direkt am Eingang. Die Hangars befinden sich ja hinter einem Wall.“ Der sei wie eine Mauer, die zwei Welten voneinander trenne.

Das Misstrauen gegenüber dem Senat ist riesig

Neben der Wut über die Bebauungspläne dominiert unter den Gesetzesgegnern ein zweites Gefühl: das des Misstrauens gegenüber dem Senat, und dies in praktisch jeder Detailfrage. Wie soll man zum Beispiel glauben, Tempelhof werde wie versprochen nur eine kurze Zwischenstation für Neuankömmlinge, für Tage, maximal Wochen, bis eine menschenwürdigere Unterkunft gefunden ist – wenn doch alle Menschen, die bereits vor drei Monaten in die Hangars einzogen, heute immer noch dort sind?

Das Misstrauen ist auch Ergebnis einer miserablen Krisenkommunikation des Senats, einer langen Abfolge vager Versprechungen, Fehlinformationen, Ansagen mit mickriger Halbwertszeit. Es begann chaotisch, als Anfang November ein vertrauliches Papier an die Öffentlichkeit gelangte. Darin schlug der Senatskanzleichef überraschend „bauliche Anlagen einschließlich Einfriedungen“ und dafür eine Änderung des Tempelhof-Gesetzes vor. Wer das Dokument an die Presse gab, ist umstritten. SPD und CDU beschuldigen sich gegenseitig.

In dem Stil ging es weiter. Noch am Abend des 16. November erklärte Christian Gaebler, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, dass lediglich die temporäre Bebauung des Streifens an der Westseite geplant sei – am nächsten Tag behauptete sein eigener Chef, Senator Andreas Geisel, auch auf der Ostseite seien Bauten denkbar. Ein Insider, der das jetzige Änderungsgesetz wesentlich mitgeschrieben hat, sagt: „Es wirkt, als hätte der Senat strikt nach einem Lehrbuch gehandelt, und dieses Lehrbuch heißt: Wie erzeuge ich maximales Misstrauen?“ Er selbst könne es Bürgern nicht verdenken, wenn sie dem Senat in der Tempelhoffrage kein Wort mehr glaubten.

Vermutlich hätte der Widerstand gegen die Senatspolitik noch viel stärker ausfallen können. Aber auch die Initiative „100 % Tempelhofer Feld“ ist zerstritten. Da gibt es das Kampagnenteam, in dem sich Kerstin Meyer engagiert. Es gibt das sogenannte Plenum, das intern als „Gruppe alter Männer, die sich streiten und kein Handy haben“ charakterisiert wird. Und es gibt das kleine Team derjenigen, die damals das Gesetz formuliert haben. Unter den Aktivisten heißt es, die Gesetzestexter seien arrogant und glaubten, mehr als andere den Kurs bestimmen zu können.

Wie eine Folge "House of Cards"

Die internen Kämpfe haben viel Kraft gekostet. Felix Herzog, 30, jahrelang Pressesprecher der Initiative, hat sich entnervt zurückgezogen. Er war von einer Mitstreiterin angegiftet worden, weil sie für ein Interview in der „rbb-Abendschau“ nicht berücksichtigt wurde. Jetzt macht er solo weiter, und er wirkt nicht frustriert. Wenn Herzog von den Winkelzügen – sowohl bei den Befürwortern als auch den Gegnern der Gesetzesänderung – erzählt, klingt das wie eine Folge der TV-Serie „House of Cards“. Es gibt die Idealisten, die Intriganten, die Halbehrlichen und die Garnichtehrlichen.

Und dann gibt es Menschen wie Niels Rickert. Er ist Kulturbauingenieur, ein breitschultriger, kräftiger Mann, der geschliffen redet, als habe er philosophische Fachliteratur auswendig gelernt. Niels Rickert war Donnerstagabend ebenfalls auf der Bürgerversammlung, wollte den Senatsvertretern seine Meinung sagen, aber als er an die Reihe kam, hat er sein eigenes Wort nicht verstanden. „Ich bin in meinem Hall untergegangen und habe deshalb abgebrochen“, sagt er. Jetzt sitzt er auf einem grünen Plastikstuhl mitten im Allmende-Garten, den Gemeinschaftsgärten auf der Ostseite des Feldes. Er hat das Projekt mitgegründet und kommt jede Woche vorbei, obwohl er selbst gar keine Parzelle besitzt.

Niels Rickert engagiert sich schon lange gegen die Bebauung des Feldes, ist auch bei der „AG Village“ dabei, einer Gruppe, die dem Senat vorschlägt, in den Hangars mehrstöckige Holzhäuser zu errichten und alle anderen Bauten auf dem Vorfeld zu konzentrieren – somit wäre die Gesetzesänderung überflüssig.

Also, Herr Rickert, worum geht es wirklich in diesem Streit?

Niels Rickert sagt, dass die Relevanz des Ortes unterschätzt werde. Es handele sich schließlich um den einstigen Hausberg der Gemeinde Berlin. Dann erzählt er von den Templern und der Romantikerbewegung, von Schiller und den Reichstagsprotokollen von 1911. Was der Senat eigentlich vorhabe: Er wolle über den Umweg der Flüchtlingsunterbringung endlich Zugriff auf Flächen erhalten, die eisenbahnbaurechtlich gewidmet seien und deren Widmung der Senat sonst nicht aufheben könne. Es gehe also selbstverständlich um die marktwirtschaftliche Perspektive, um den Verschuldungsgrad von Berlin, um das Sich-Aufstellen einer armen Gemeinde gegenüber ihren Gläubigern. Der Senat wolle irgendwann mit dem Feld Geld verdienen, das werde man auch noch sehen. Das klingt plausibel und sehr weitsichtig. Und doch nach einem Kosmos, in dem die akuten Nöte einer überforderten Verwaltung – oder gar die von zigtausenden Angekommenen – wenig Platz haben.

Herr Rickert, waren Sie eigentlich schon bei den Flüchtlingen?

Nicht direkt, sagt Niels Rickert. Er sei einmal an den Hangars gewesen. Die Menschen kamen ihm alle schrecklich verloren vor.

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