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European Focus #23: Der europäische Traum und die Realität

+++ Kampf für den EU-Traum +++ „Besser als ihre Regierung“ +++ Estland mit Blick auf Georgien alamiert +++ Zahl der Woche: 4 +++ Montenegro braucht ein Startsignal +++

Hallo aus Madrid,

Sie haben vermutlich die jüngsten Bilder und Videos aus Georgien gesehen, wo sich Demonstranten mit EU-Flaggen Wasserwerfern entgegenstellten. Diese Bilder verdeutlichen, wie sich die dortige Bevölkerung gegen den von ihrer Regierung eingeschlagenen Weg wehrt. Die Nachbarländer und potenziellen Beitrittskandidaten setzen mehr Erwartungen in die EU, als deren Mitgliedstaaten zu erfüllen bereit sind. Das deutlichste Beispiel ist wohl der Balkan, wo die EU schlichtweg enttäuscht hat.

Inzwischen kommen aus unterschiedlichen Richtungen – beispielsweise aus Frankreich – Ideen für Alternativen wie einer sogenannten „Europäischen Politischen Gemeinschaft“, um den Beitritt neuer EU-Mitglieder zu umgehen.

Staaten wie die Ukraine, Moldawien und auch Georgien, das vorerst abgelehnt wurde, wollen jedoch weiterhin der EU beitreten. Der Ball liegt im Feld der Union und der Mitgliedstaaten: Sie müssen etwas anbieten... oder sich im Gegenzug nicht wundern, wenn diese Länder sich anderen Akteuren wie Russland oder China zuwenden.

Alicia Alamillos, dieswöchige Chefredakteurin

Kampf für den EU-Traum

Das Trio Georgien, Ukraine und Moldawien hat im vergangenen Jahr Anträge auf EU-Mitgliedschaft gestellt. In Georgien hoffte man bisher, bis Ende 2023 den offiziellen Kandidatenstatus zu erhalten. Nun hat die Regierungspartei Georgischer Traum vor Kurzem ein Gesetz über „ausländische Agenten“ vorgeschlagen. Der Entwurf löste heftige Proteste aus; Kritiker halten das Gesetz für „von Moskau diktiert“. Einige verglichen die Reaktion der Bürger sogar mit dem Euromaidan in der Ukraine 2014.

Die georgische Regierung hat die EU-Bestrebungen des Landes nie ausdrücklich zurückgewiesen, doch legt sie seit der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 verstärkt eine antiwestliche Rhetorik an den Tag. So weigert sie sich, sich den westlichen Sanktionen gegen Russland anzuschließen oder der Ukraine militärische Unterstützung zukommen zu lassen. Tiflis rechtfertigt dies mit Verweisen auf die eigene Neutralität, man will vor allem einen erneuten russischen Einmarsch in Georgien verhindern. Darüber hinaus beschuldigt die georgische Führung die Opposition, „einige westliche Mächte“ und die ukrainischen Behörden, als aggressive „Kriegsparteien“ zu agieren, die „versuchen, Georgien in diesen Krieg hineinzuziehen und eine zweite Front gegen Russland zu eröffnen“.

Nachdem die Regierung sich nun gezwungen sah, einen Rückzieher bei der Verabschiedung des „Ausländische-Agenten-Gesetzes“ zu machen, ist ihre Rhetorik nur noch schärfer geworden. Der Rückzieher könnte durchaus nur taktischer Natur sein.

Während das Land weiterhin auf eine positive Entscheidung über den potenziellen Kandidatenstatus hofft, kritisiert die Regierung weiterhin die „Kriegspartei“ EU für das mögliche Scheitern. Die Zivilgesellschaft und die Medien hingegen sind bemüht, die pro-russischen Narrative der politischen Führungsriege zu entkräften. Weitere Enttäuschungen könnten zu größeren Unruhen führen und dürften die Chancen des Georgischen Traums bei den Parlamentswahlen 2024 deutlich schmälern.

Die Mehrheit der Georgier ist nach wie vor der Ansicht, die wirtschaftliche Entwicklung und die Sicherheit des Landes hänge eng mit der euro-atlantischen Integration zusammen. Die Hinwendung zu Russland ist demnach keine Option. In den vergangenen Tagen und Wochen haben die Menschen in Georgien bewiesen, dass sie für eine „europäische Zukunft“ Georgiens kämpfen wollen. Das ikonische Bild einer Frau, die am 7. März in Tiflis die EU-Flagge gegen einen Wasserwerfer schwenkte, ist bereits zum Symbol geworden.

Irma Dimitradze ist Journalistin aus Georgien. Sie schreibt für die Online-Medien Netgazeti.ge und Batumelebi.ge.

„Besser als ihre Regierung“

„Diese unglaubliche georgische Bevölkerung versteht, dass Freunde unterstützt werden müssen! Es gibt Zeiten, in denen die Bürger nicht von ihrer Regierung vertreten werden. Sie sind besser als die Regierung.“
Wolodymyr Selenskyj

Seit 2005 galten die Ukraine und Georgien einander als enge Verbündeten in der post-sowjetischen Zone. Das änderte sich jedoch, als Russland seine groß angelegte Invasion auf ukrainischem Boden startete: Seit dem 26. Februar 2022 liefern sich der ukrainische Präsident Selenskyj und seine Vertreter Wortgefechte mit georgischen Behörden. Diese dauern bis heute an.

Während die Georgier vor gut einem Jahr auf die Straßen strömten, um gegen Russlands Angriff auf die Ukraine zu protestieren, weigerte sich die georgische Regierung, Sanktionen gegen den Kreml zu verhängen. Im Laufe des Jahres warfen hochrangige ukrainische Beamte Tiflis vor, zu unentschlossen, verlogen oder pro-russisch zu sein, während georgische Minister und Abgeordnete der ukrainischen Seite „Provokation“ und „Arroganz“ attestierten.

In der vergangenen Woche gab es einmal mehr deutliche Worte: Selenskyj unterstützte demonstrativ die Pro-EU-Demonstranten in Georgien und wünschte ihnen „demokratischen Erfolg“. Der georgische Premierminister Irakli Gabriaschwili reagierte umgehend und legte der ukrainischen Führung nahe, sich „um ihr eigenes Land zu kümmern“.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Estland mit Blick auf Georgien alarmiert

Seit vergangenem Sommer hatte man in Georgien gehofft, zusammen mit der Ukraine und Moldawien als EU-Beitrittskandidat aufgenommen zu werden. Der Versuch ist jedoch vorerst gescheitert. Estlands scheidender Außenminister Urmas Reinsalu erklärt, wie es dazu kam, warum die Menschen in Georgien erneut enttäuscht werden könnten und dass die zuvor stets unterstützende Regierung Estlands inzwischen enttäuscht über die (mangelnden) Fortschritte Georgiens auf dem Weg zum EU-Beitritt ist.

Warum sprechen sich einige EU-Staaten gegen den Kandidatenstatus für Georgien aus?
Abgesehen von den eher technischen Aspekten ist das Hauptproblem das Funktionieren von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Georgien. Wir sehen keine entschlossenen Bemühungen der georgischen Regierung. Die georgische Bevölkerung spricht sich sehr deutlich für die Integration in die westlichen Institutionen aus. Die Regierung tut dies zwar rhetorisch auch, in der Praxis macht sie aber eher Rückschritte.

Seit 2008 gab es viele Hoffnungen auf Integrationsfortschritte Georgiens in Richtung EU. Was hat sich aus estnischer Perspektive geändert? 
Estlands Sympathie für Georgien war der Eckpfeiler unserer Beziehungen, nachdem das Land 2008 Opfer der russischen Invasion wurde. Wir haben Georgien trotz gewisser politischer Entwicklungen seit dieser Zeit stets unterstützt. Die Ereignisse der letzten Jahre haben jedoch Besorgnis ausgelöst. Wir haben wiederholt unsere Enttäuschung über die Unterdrückung der Opposition zum Ausdruck gebracht. Estland darf dazu nicht schweigen. Symbolisch dafür ist die Verschlechterung des Gesundheitszustands des ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili im Gefängnis. Ich habe mich persönlich dafür eingesetzt, dass er die Möglichkeit erhält, sich im Ausland behandeln zu lassen. Wir haben auch selbst medizinische Hilfe angeboten. Diese Bitten wurden aber negativ beantwortet.

Eine der angesprochenen Enttäuschungen dürfte auch die georgische Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine sein…
Wenn man bedenkt, dass Georgien selbst Opfer einer Invasion war und ist, war die Haltung der Regierung in Tiflis viel zu milde. Politisch ist Georgien immer noch ein uns gleichgesinntes Land, aber wir haben keine entschlossene Haltung gesehen, auch angesichts der hunderttausenden Russen, die nach Georgien kommen durften. Kritisch gesehen wird darüber hinaus Georgiens Haltung zu den Sanktionen gegen Russland.

Herman Kelomees ist Journalist bei Delfi in Tallinn und berichtet hauptsächlich im Ressort Politik.

Zahl der Woche: 4

Wie lange dauert es, ein Gesetz aufzuheben, das NGOs zwingt, sich als „ausländische Agenten“ zu registrieren? In Ungarn: vier Jahre und ein Gerichtsurteil. Im Jahr 2017 verabschiedete das ungarische Parlament ein Gesetz, das Organisationen, die jährlich mindestens 7,2 Millionen Forint (rund 18.500 Euro) aus dem Ausland erhalten, verpflichtet, sich bei den Gerichten registrieren zu lassen. Sonst drohte ihnen eine Geldstrafe.

Die Proteste der Zivilgesellschaft verhallten in Ungarn weitgehend ungehört, allerdings nicht bei der Europäischen Union: Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs und auf Druck der EU-Kommission wurde das Gesetz im Jahr 2021 wieder aufgehoben. Keine NGO wurde jemals zu einer Geldstrafe verurteilt.

Georgien, das mit einem ähnlich umstrittenen Gesetzesentwurf nun in die Fußstapfen Ungarns getreten ist, verfügt nicht über den rechtlichen Schutz dert EU. Der ungarische Fall beweist, dass die Rechtsstaatlichkeit in der EU aufrechterhalten wird, auch wenn einer einzelnen Regierung die Entscheidung nicht gefallen mag.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.

Montenegro braucht ein Startsignal

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Montenegro am 19. März ist die EU-Mitgliedschaft wieder einmal ein wichtiges Wahlkampfthema und -versprechen: Alle Kandidaten verpflichten sich, die Reformen zu beschleunigen, damit das Land bereits im Jahr 2028 EU-Mitglied werden könne. Im Gegensatz zu diesen großen Versprechungen könnte die EU-Mitgliedschaft für das kleine Land mit seinen 620.000 Einwohnern aber weiterhin unerreichbar bleiben – so wie für weitere Länder der Balkanregion, in denen solche Beteuerungen ebenfalls nicht eingehalten wurden.

Montenegro hat seinen EU-Verhandlungsprozess im Juni 2012 begonnen. Bisher wurden aber lediglich drei der 33 Verhandlungskapitel abgeschlossen. Der Prozess dauert damit bereits länger als bei der anderen ex-jugoslawischen Republik Kroatien, wo die Verhandlungen mit Brüssel in sechs Jahren abgeschlossen werden konnten. Kroatien war 2013 das bisher letzte Land, das der EU beitrat.

In Montenegro gibt es immer wieder Probleme mit politischer Einmischung in die staatlichen Institutionen. Gleichzeitig warnt die Europäische Kommission in ihren jährlichen Fortschrittsberichten unter anderem, dass es den politischen Parteien nicht gelingt, in wichtigen Fragen von nationalem Interesse einen Konsens zu erzielen. Das jüngste Beispiel: nach sechs Monaten starken Drucks seitens der EU hat das montenegrinische Parlament endlich neue Verfassungsrichter ernannt. Diese Ernennungen erfordern eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments. Die Abgeordneten konnten sich monatelang nicht auf die Richter einigen, so dass das Gericht lange Zeit nicht beschlussfähig war. Aktuell gibt es immer noch keine Einigung darüber, wer der neue Generalstaatsanwalt beziehungsweise Leiter des Obersten Gerichtshofs werden soll.

Laut Verfassung hat der Präsident keine Befugnis, Gesetze vorzuschlagen oder Beamte zu ernennen. Diese schwache Position könnte zukünftig in eine Stärke umgewandelt werden: Wer auch immer bei den kommenden Präsidentschaftswahlen siegt, sollte den Dialog zwischen den Regierungsparteien und der Opposition fördern, um die für den Beitritt notwendigen Reformen durchzusetzen. Mehr als 80 Prozent der montenegrinischen Bevölkerung befürworten den EU-Beitritt. Es ist höchste Zeit, die notwendigen Reformprozesse zu beschleunigen, damit das Ziel „EU 2028“ kein leerer Wahlkampfslogan bleibt.

Samir Kajosevic ist ein montenegrinischer Journalist mit Sitz in Podgorica. Er arbeitet für Balkan Insight.

Danke, dass Sie die 23. Ausgabe von European Focus gelesen haben. 

Wie Ihnen aufgefallen sein wird, haben wir uns diese Woche sowohl thematisch als auch bei den beitragenden Journalisten auf Mittel- und Osteuropa fokussiert (als Madrilenin bin ich die Ausnahme). Auch das spiegelt wider, dass sich das Interesse an sowie die Bedeutung dieser Regionen in letzter Zeit wieder verstärkt haben. Wenn Sie Ideen, Anmerkungen oder Vorschläge haben, melden Sie sich gerne bei uns; unter info@europeanfocus.eu.

Bis nächste Woche! 

Alicia Alamillos

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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