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Menschen nehmen an einer Kundgebung teil und machen auf das Schicksal ukrainischer Kriegsgefangener aufmerksam.

© dpa/Francisco Seco

Ukraine-Invasion Tag 800: Bekommen ukrainische Soldaten nach ihrer Gefangenschaft zu wenig Zeit zur Rehabilitation?

Russland für Cyber-Angriff auf SPD verantwortlich. Frankreich geht von 150.000 getöteten russischen Soldaten aus. Der Nachrichtenüberblick am Abend.

Als Kriegsgefangener musste er neun Monate lang physische und psychische Folter erleben, drei Monate bekam der unter dem Rufnamen Smiley bekannte 22-jährige ukrainische Soldat Zeit zur Rehabilitation. Dann ging es zurück zu seiner Einheit.

Dass er zu dem Zeitpunkt das Erlebte noch lange nicht verarbeitet hatte, stellte er erst später fest. „Ich bekam Flashbacks und Albträume“, sagte er. „Ich habe nur zwei Stunden geschlafen und bin mit klatschnassem Schlafsack aufgewacht.“

Mit dem Soldaten haben jetzt Journalisten der „New York Times“ (Quelle hier) gesprochen. Und er ist kein Einzelfall: Wie das Medium in Gesprächen mit Häftlingen, Beamten und Psychologen festgestellt haben will, werden die Soldaten, die in russischer Kriegsgefangenschaft waren, offenbar zu früh wieder in den Dienst zurückgeschickt.

Seit Beginn der russischen Invasion sollen fast 3000 ukrainische Kriegsgefangene im Rahmen von Gefangenenaustauschen aus Russland freigelassen worden sein. Die Vereinten Nationen haben die Folter von Kriegsgefangenen durch Russland dokumentiert. Häftlinge sollen über Schläge, Elektroschocks, Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt und Scheinhinrichtungen geklagt haben.

Die meisten der entlassenen Gefangenen kämen der „New York Times“ zufolge nach etwa drei Monaten Ruhe und Rehabilitation wieder in den aktiven Dienst zurück. Das liege wohl auch daran, dass der Ukraine Truppen an der Front fehlen. Ukrainische Beamte sollen eingeräumt haben, dass es Probleme bei der ausreichenden Versorgung ehemaliger Häftlinge gegeben habe. Inzwischen hätten sie aber spezielle Zentren für sie eingerichtet.

Ukrainische Staatsanwälte sollen ehemalige Gefangene identifiziert haben, die als Zeugen dienen sollen, um russische Einzelpersonen und Beamte wegen Misshandlung von Gefangenen anzuklagen. Neben dem Soldaten mit dem Rufnamen Smiley zählt zu diesen Zeugen auch ein 36-Jähriger, der seinen Namen nicht nennen will.

Er sei nach einer langen Belagerung des Stahlwerks in Mariupol im Mai 2022 gefangen genommen worden. Er verbrachte neun Monate in russischer Gefangenschaft, bevor er zuletzt im Rahmen eines Gefangenenaustauschs vorzeitig freigelassen wurde. Er sagte, er sei gezwungen worden, sich auszuziehen und seine Genitalien auf einen Stuhl zu legen. Sie hätten ein Messer auf sie gelegt und ihm gedroht, ihn zu kastrieren. Er nicht, aber andere seien auch vergewaltigt worden. Immer wieder habe es Selbstmorde im Gefängnis gegeben.

Nach seiner Rückkehr sei er stark untergewichtig gewesen, habe an einer Wirbelsäulenverletzung sowie an Ohnmachtsanfällen, Schwindelgefühlen und Ohrensausen aufgrund häufiger Schläge auf den Kopf gelitten. „Ich falle nicht mehr in Ohnmacht“, sagte der Soldat, „aber ich habe Probleme mit dem Rücken, eine Gehirnerschütterung und ein ständiges Quetschen in der Gegend um mein Herz.“ Trotz seiner Verletzungen sei ihm befohlen worden, nach nur zweimonatiger Ruhezeit zum leichten Dienst als Wache zurückzukehren.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages im Überblick:

  • Seit Russlands Einmarsch in der Ukraine vor gut zwei Jahren sind nach Schätzungen der französischen Regierung bereits etwa 150.000 russische Soldaten getötet worden. Hunderttausende weitere seien in dem Krieg verwundet worden, sagte der französische Außenminister Stéphane Séjourné in einem Interview mit der unabhängigen russischen Zeitung „Nowaja Gaseta Europa“.
  • Der offenbar vom russischen Militärgeheimdienst GRU ausgehende Cyberangriff im vergangenen Jahr hat sich nach Angaben des Bundesinnenministeriums außer gegen die SPD auch gegen deutsche Unternehmen gerichtet, unter anderem aus den Bereichen Rüstung, Luft- und Raumfahrt. „Die russischen Cyberangriffe sind eine Bedrohung für unsere Demokratie, der wir entschlossen entgegentreten“, betonte Innenministerin Nancy Faeser (SPD).
  • Im Niger richten sich russische Soldaten auf einem Luftwaffenstützpunkt ein, auf dem auch noch US-Truppen stationiert sind. Die russischen Soldaten mischten sich nicht unter die US-Truppen, sondern nutzten einen separaten Hangar der Airbase 101 nahe des Flughafens der nigrischen Hauptstadt Niamey, sagte ein ranghoher Vertreter des US-Verteidigungsministeriums. Man sei davon zwar nicht begeistert, die Lage sei aber zu beherrschen. Mehr dazu lesen Sie hier.
  • Der britische Außenminister David Cameron hat der Ukraine jährliche Militärhilfe in Höhe von drei Milliarden Pfund versprochen. „Wir werden jedes Jahr drei Milliarden Pfund zur Verfügung stellen, so lange es nötig ist. Wir haben wirklich alles ausgeschöpft, was wir an Ausrüstung geben können“, sagt er in einem Interview bei einem Besuch in Kiew. Das Hilfspaket sei das bisher größte des Vereinigten Königreichs. Die Ukraine habe das Recht, die von London zur Verfügung gestellten Waffen zu nutzen, um Ziele in Russland anzugreifen, und es liege an Kiew, dies zu tun.
  • Der Kreml hat die Erklärungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und des britischen Außenministers David Cameron scharf kritisiert. „Das ist eine sehr wichtige und sehr gefährliche Äußerung“, kommentierte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Agenturen zufolge Macrons Beharren darauf, einen Einsatz westlicher Truppen in der Ukraine nicht auszuschließen. Die Gefahr einer direkten Beteiligung Frankreichs an dem Konflikt steige damit. Mehr dazu hier und hier.
  • Im Osten der Ukraine sind bei einem russischen Bombardement auf die in der Nähe der Frontlinie gelegene Stadt Kurachowe nach ukrainischen Angaben mindestens zwei Menschen getötet worden. „Das Stadtzentrum wurde getroffen, mehrere Gebäude sind beschädigt. Zwei Personen wurden verletzt und zwei weitere getötet“, schrieb der Chef der Militärverwaltung der Stadt, Roman Padoun, bei Facebook.
  • Das russische Militär hat nach eigenen Angaben in der Nacht wieder ukrainische Drohnenangriffe abgewehrt. Insgesamt habe die Luftabwehr sechs Drohnen abgeschossen, teilt das Verteidigungsministerium in Moskau über den Kurznachrichtendienst Telegram mit. Fünf Drohnen seien über der russischen Region Belgorod an der Grenze zur Ukraine und eine Drohne über der annektierten Halbinsel Krim zerstört worden.
  • Die Ukraine wird einem Medienbericht zufolge irgendwann Gespräche mit Russland aufnehmen müssen. „General Skibizki sagt, er sehe keine Möglichkeit für die Ukraine, den Krieg allein auf dem Schlachtfeld zu gewinnen“, schreibt das Magazin „The Economist“ in einem Interview mit Generalmajor Wadim Skibizki, stellvertretender Leiter des ukrainischen militärischen Nachrichtendienstes „Hur“. Mehr dazu hier.
  • Angesichts der schwierigen Lage an der Front hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine schnelle Lieferung der kürzlich versprochenen US-Waffen gefordert. „Ich bin dem US-Kongress für seine Entscheidung dankbar, doch auch mit der Liefergeschwindigkeit und der Umsetzung von Entscheidungen darf es kein Problem geben“, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. „Wir warten darauf, dass die Waffen für unsere Kämpfer in der Ukraine ankommen.“

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