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Kultur: Der Seelenkomponist

Zeitgenosse, Zauberer: Die Staatsopern-Festtage ergründen Gustav Mahlers symphonisches Werk

Am 18. Mai 2011 wird Gustav Mahler 100 Jahre tot sein. Ein gleißend heißer Frühsommertag, die Feuilletons im dialektischen Dauerdelirium, die Konzertsäle voll von seinen Symphonien, seinen Liedern, deren Fratzen, Süßigkeiten und Totentänzen. Alle Musik Mahlers sei, so hat es Theodor W. Adorno in Anlehnung an ein „Wunderhorn“-Lied einst formuliert, „eine Revelge“. Ein Aufwecken, ja Aufschrecken. Ein Erwachen. Tra-la-li, tra-la-ley, tra-la-lera.

Wenn die Musikwelt Glück hat, dann gilt dieses Diktum auch in vier Jahren noch. Nicht weil es eine andere, bessere Welt verhieße: Mahler war kein Programmmacher, kein Utopist. Sondern weil es darauf pocht, dass wir jenes andere, Bessere in uns tragen – und alles Schlechte dieser Welt, ihre Wahrheit uns dennoch zumutbar bleibt. Die „Leichensteine“ im lustigen Blechtrommelgerassel des „Revelge“-Liedchens, die überseedampfergroß dröhnende Todesahnung im Kopfsatz der neunten Symphonie von 1908. Insofern war Mahler gewiss Realist. Und Humanist auch.

Fast 100 Jahre Mahler-Rezeption, das liest sich und hört sich vielfach an wie eine eher zufällig Klang gewordene Analyse des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Just damit soll jetzt Schluss sein. Zurück zur Musik!, rufen Daniel Barenboim und Pierre Boulez und teilen sich in den nächsten zwölf Tagen im Rahmen der diesjährigen Festtage der Berliner Lindenoper einen Mahler-Zyklus, der sich dem „psychoanalytischen Kontext“ (Barenboim in der „Zeit“ vom 22.3.2007) ebenso zu verweigern gewillt ist, wie überhaupt dem ach so Weltanschaulichen dieser Musik. Mahler freudianisch zu deuten, in ihm den Weltumarmungszyniker zu sehen, den Katalysator unserer zerrissenen Seele, war gewiss seit jeher leichter und politisch korrekter, als sein Schaffen ästhetisch zu orten und das Lesartliche seiner Partituren über alle „Zeitverhältnisse“ zu stellen, und seien diese noch so verführerisch.

Nichts Geringeres als das Freudianische aber hat man Mahlers Musik stets abverlangt: Welt-, ja Selbstauskunft zu geben über alles, was da Moderne und späte Postmoderne heißt, alles, was „wir“ sagt und doch „ich“ meint. Johannes Brahms mochte der „Fortschrittliche“ gewesen sein, Arnold Schönberg mit eben jenem Fortschritt bitteren Ernst gemacht haben – Mahler stand im Fadenkreuz, wandelte auf brüchigen Graten (auch das ein Klischee). Zwischen Spätromantik und Zweiter Wiener Schule, zwischen Kunst und Wirklichkeit, Judentum und Katholizismus, vor allem: zwischen Werk und Augenblick. „Wir verkleinern vielleicht schon“, schreibt Peter Gülke 2001, „wenn wir zusammen zu denken versuchen: den Potentaten mit dem Schutz- und Liebebedürftigen, den die Zuchtrute Schwingenden mit dem Verwundbaren, den Öffentlichkeit Organisierenden mit dem der Welt abhanden Kommenden, den pragmatischen Strategen mit dem arglos Reinen, den Gigantomanen mit seinen leisesten, intimsten Tönen.“

Auseinander denken also und beim Wort nehmen, was je für sich seine Berechtigung hat. Weniger die „Großartigkeit“ des Ganzen betonen und behaupten, als dem Bruchstückhaften, Fragmentarischen, ja wenn man so will: dem Pop- Charakter der eigenen Wahrnehmung trauen, gar huldigen (kein ganz neuer Gedanke). Genau das aber wäre von Mahler zu lernen, immer noch, immer wieder, und vielleicht hätten wir diesen Gedanken ja auch längst auf den Kopf stellen müssen: Genau das wäre für Mahler zu lernen, in freiem Spiel gewissermaßen mit dem so Weimarisch anmutenden Barenboim-Motto, der Mensch und Musiker lerne nicht nur aus dem Leben für die Musik, sondern auch aus der Musik fürs Leben. Dem österlichen Mahler-Zyklus der Staatskapelle jedenfalls wächst hier, Absichtserklärungen hin oder her, eine enorme Zeitfühligkeit zu und wohl auch ein Stück Zukunftstracht.

Nicht, weil sie vier Jahre vor dem verbrieften Jubiläum entschlossen alle Kräfte bündelt. Sondern weil sie Mahlers Oeuvre (neun Sinfonien, Orchesterlieder und „Lied von der Erde“) zwei Dirigenten anvertraut – nur zweien wohlgemerkt, und: diesen zweien. Es mag dafür praktische, pragmatische Gründe geben. Nicht jeder Künstler liebt jedes Stück, nicht jedes Stück jeden Künstler, und ganz bestimmt ist es ein Indiz für einen in Mahler-Dingen Spätberufenen wie Barenboim, dass er (vorläufig?) sowohl die Zweite wie die Achte scheut.

Darüberhinaus freilich treffen hier drei, streng genommen sogar vier Parameter aufeinander, die dazu angetan wären, Gustav Mahler als Zeitgenossen der Gegenwart auszuweisen – und damit unsere Gegenwart als eine genuin mahlerianische: Ein Saal, Scharouns Philharmonie, der die Musik im Weltkugel- respektive Austernformat umschließt (statt ihr architektonisch und ex cathedra die Rolle der Wahr-Sagerin zu überantworten); ein Orchester, die Berliner Staatskapelle, das von der „Dunkelheit“, der erotischen Sanglichkeit und Tiefenstaffelung seines Timbres her fest im altdeutschen Klangerbe verankert steht; und zwei Dirigenten, wie gesagt, Daniel Barenboim und Pierre Boulez, die antagonistischer nicht sein könnten. Barenboim, der Farbenfetischist, dem ausgerechnet Mahler Anlass dafür ist, die ehrwürdige Portamento- Technik neu zu erörtern, das gleichsam ansatzlose Verbinden zweier Töne also. Man höre den auf CD erhältlichen Mitschnitt seiner Neunten vom November 2006, den ersten Satz, Andante comodo, und wie dieser im Rausch der Nuancen und Naturlaute schier an sich selbst ertrinkt, den ganzen Lärm der Schönheit im All, kreischendes Kapellen-Holz, bronzenes Blech – und verstehe, nein, verspüre am eigenen Leib, was Alban Berg hier mit „schmerzvollster Lebenslust“ meinte.

Gegen all das Boulez, Komponist (!), Grandseigneur der französischen Avantgarde und Intellektueller, großer Kühler. Einer, dem selbst im Pathos der Zweiten, der „Auferstehungs“-Symphonie, noch die Fotografie gelingt, das röntgenhafte Ablichten der überkomplexen Strukturen, ihre unbedingte Transparenz.

Früher gliederte sich die Branche, schlicht ausgedrückt, in gute und weniger gute Mahler-Dirigenten: authentische wie Bruno Walter, Feuerköpfe wie Dimitri Mitropoulos oder John Barbirolli, Orgiastiker wie Bernstein, Klassizisten wie Karajan oder Giulini, Hektiker wie Solti, Schwarzbrotesser wie Michael Gielen, noble Langeweiler wie Tennstedt oder Mehta. Man hatte es eben, das Mahlersche Überwältigungs-Gen, die große Weltschmerzeuphorie, oder man hatte sie nicht. Und kaum weniger sprechend liest sich die Liste der gewesenen und amtierenden Mahler-Verweigerer: Furtwängler, Carlos Kleiber, Celibidache, Nikolaus Harnoncourt, Thiele mann . . . Die Zitathaftigkeit seiner Klangwelten, ihre Dekonstruktionen, ihr notorisches sich „Ausgenießen“ (Alban Berg) bis zur völligen Entgrenzung und Erschöpfung – das jagt vielen höchst widerwillige Schauer über den Rücken.

Heute hingegen muss auch und gerade der Mahler-Interpret sich ästhetisch bekennen: als Angehöriger der einen wie der anderen Richtung. Deutsch oder lateinisch, mehr Wagner oder doch mehr Mendelssohn, Furtwängler oder Toscanini, britisch agil oder gar russisch plakativ? „Wer zu Mahlers Musik nur ein affektives Verhältnis der Überwältigung im Klangrausch hat, wird in einem Unterwerfungsverhältnis stecken bleiben, niemals zu einem Verhältnis der erkennenden Leidenschaft vordringen“, schreibt Jens Malte Fischer 2003 prompt in seiner emphatischen Mahler-Biografie „Der fremde Vertraute“ (Zsolnay Verlag).

Was aber braucht solche erkennende Leidenschaft? Darmsaiten und Originalinstrumente? Ein dezidiertes Wissen um Mahlers „Zuckfuß“, dieses ominöse „Totatscheln“? „Wie ein Eber“ habe es getönt, berichtet Natalie Bauer-Lechner, die Vertraute, wenn der Komponist unversehens mit einem Bein heftig auf der Stelle trampelte, im Stehen und bisweilen sogar unterm Gehen, drei-, viermal hintereinander, als wolle er sich seine ganze Lebensunrast aus dem Leibe schütteln. Oder bemüht man vielleicht lieber die Selbstzeugnisse Mahlers, wonach das Dirigieren nichts anderes sei als ein „fortwährendes Eliminieren des Taktes“? Ist dies die Wahrheit? Oder ist es nicht vielmehr legitim, die letzten 100 Jahre aufführungspraktisch mit in Rechnung zu stellen?

Für unser vielfach zeitgeistig überwuchertes Mahler-Bild mag diese Debatte einen Fortschritt darstellen. Ideologisch ist sie keineswegs neu und auch nicht ganz ungefährlich. Eine spezielle Kostprobe dieser Art lieferte Anfang des Jahres der britische Dirigent Roger Norrington, als er in der „Süddeutschen Zeitung“ eine rasiermesserscharfe Linie vom deutschen Wohllaut à la Brahms-Bruckner-Mahler über Hitlers Architekt Albert Speer bis hin zu Furtwängler und Karajan zog. Das, mit Verlaub, ist dann doch ziemlich starker Tobak. Wer Musik über das Klangliche definiert, über harmonische Spannungsverhältnisse, vielleicht gar über Schönheit und Homogenität, der sei ein ästhetischer Faschist, Rattenfänger und Demagoge? Norringtons eigener Mahler-Zyklus mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart präsentiert sich jedenfalls moralisch astrein: Es herrscht striktes Vibrato- Verbot, was sich in der Summe doch arg vorstädtisch anhört, seltsam gefühlsblind und auch -klein. Aber solche Auswüchse bringt die Aufklärung wohl mit sich. Tra-la-li, tra-la-ley, tra-la-lera.

Mahlers allerletztes Wort übrigens soll „Mozartl“ gewesen sein und dirigiert soll er haben, bis zuletzt, mit den Fingern auf der Bettdecke. So wollte es Alma Mahler- Werfel, die Witwe, bis herauskam, dass sie beim Sterben ihres Mannes gar nicht zugegen war (und bei seiner Beerdigung auch nicht). Das letzte und vielleicht berühmteste Foto seines Lebens zeigt den todkranken Komponisten 1911 auf der Überfahrt von Amerika zurück nach Europa. Eine zerbrechlich-chaplineske Figur lehnt da an der Schiffsreling, ein Bein lianengleich ums andere geschlungen, den Stock wie eine Harpune in die Planken gespießt. Der Tod grüße hier förmlich aus jeder Pore, schreibt Jens Malte Fischer. Lange könne man das Bild nicht ansehen. Bis heute nicht.

Daniel Barenboim, Staatskapelle Berlin, Sinfonien Nr. 7 und 9 (Warner); Pierre Boulez, Wiener Philharmoniker, Sinfonie Nr. 2 (DG); Roger Norrington, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Sinfonien Nr. 1, 4 und 5 (hänssler).

Mahler-Zyklus der Staatskapelle Berlin mit Daniel Barenboim, Pierre Boulez und diversen Solisten, Philharmonie, 1. bis 12. April, jeweils 20 Uhr. Restkarten unter www.staatsoper- berlin.de

Christine Lemke-Matwey

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