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Eine deutsche Jüdin New York. Hannah Arendt (1906 - 1975) an der New School of Social Research 1969.

© Getty Images/New York Times Co.

Jonglieren mit Zitaten: Die Philosophin Hannah Arendt in einer Kritischen Gesamtausgabe

Arendt überall: An der Freien Universität feiert man das Erscheinen ihres letzten unvollendeten Werks „The Life of the Mind“.

Von Gregor Dotzauer

Am akademischen und nicht so akademischen Papierausstoß gemessen, gibt es längst eine kleine Hannah-Arendt-Industrie. Keine große Denkerin des 20. Jahrhunderts hat posthum einen solchen Ruhm erfahren wie diese deutsche Jüdin, die im amerikanischen Exil ihre bedeutendsten Bücher schrieb.

Nachgetragene Gerechtigkeit für eine zu Lebzeiten weithin unterforschte Philosophin spielt dabei ebenso eine Rolle wie eine bildmächtig zelebrierte Idolatrie: In ihrer knorrigen Aura bildet Hannah Arendt so etwas wie das Gegenstück zum ätherischen Pathos von Ingeborg Bachmann, der sie in einer Brieffreundschaft verbunden war – auch über das gemeinsame Thema der Shoah.

In Berlin traten am vergangenen Dienstag gleich zwei Buchpräsentationen gegeneinander an – wobei sich beide kaum der Industrie zuschlagen ließen. Lindsey Stonebridge, Inhaberin des interdisziplinären Lehrstuhls für Geisteswissenschaften und Menschenrechte an der Universität Birmingham, unternahm es im Literaturhaus, „Hannah Arendts Lektionen in Liebe und Ungehorsam“ nachzugehen. Unter dem Titel „Wir sind frei, die Welt zu verändern“ (C.H. Beck) versucht sie, unter anderem Arendts Erfahrungen mit Flucht und Migration für das 21. Jahrhundert fruchtbar zu machen.

Abenteuerliche Wirren

An der Freien Universität dagegen hieß es: Zurück zu den Ursprungstexten! In einer halbtägigen Festveranstaltung mit Vorträgen und Lesungen gaben die Herausgeberinnen und Herausgeber der auf 16 Bände angelegten Kritischen Gesamtausgabe (Wallstein Verlag) unter der anfänglichen Ägide der nach wie vor beteiligten Barbara Hahn Einblicke in ein epochales, nach abenteuerlichen Wirren auch von der DFG gefördertes Projekt.

Einerseits hinkt es den Editionen anderer großer Denker von Martin Heidegger bis zu Walter Benjamin weit hinterher. Andererseits kommt es in seiner hybriden, bis in die kleinste Textstufe nachvollziehbaren Form zur rechten Zeit: Jeweils ein Jahr nach Erscheinen der gedruckten Bücher findet man die Texte auch unter hannah-arendt-edition.net. Derzeit kann man sich dort mit der Lebensgeschichte von Rahel Varnhagen beschäftigen und den Fragment gebliebenen Aufsätzen „The Modern Challenge to Tradition“.

Von einer Industrie kann man schon deshalb nicht sprechen, weil es sich bei der Verfertigung der akribisch annotierten Bände um eine hinter den Kulissen hochtechnologisierte Manufaktur handelt. Es geht ihr nicht darum, einen möglichst bündigen Text zu erstellen, sondern die seinerzeit erschienenen, nach außen hin so geschlossen wirkenden Bücher wieder zu verflüssigen und in ihren unterschiedlichen Strömungen und Schichtungen zu zeigen.

Relikt in der Schreibmaschine

Das beste Beispiel ist der soeben neu erschienene, von Wout Cornelissen, Anne Eusterschulte und Thomas Bartscherer herausgegebene Band „The Life of the Mind“, Arendts letztes, unvollendet gebliebenes Werk. Nach den Teilen „Thinking“ und „Willing“ sorgte ein zweiter Herzinfarkt im Dezember 1975 dafür, dass „Judging“ nur noch ein Titelblatt erhielt. Es steckte, mit einem Zitat aus „Faust II“ versehen, noch in ihrer Schreibmaschine.

Was 1979 unter dem Titel „Vom Leben des Geistes“ im Piper Verlag auch auf Deutsch erschien, war eine von Mary McCarthy deutlich geglättete Version. Die Grenze zwischen rein sprachlichen Korrekturen, die McCarthy vor Arendts Tod bei früheren Büchern in vollkommenem Einverständnis mit der Freundin vornahm, und Eingriffen in den Rhythmus der Sätze und die Gestalt der Bilder lässt sich hier schwer ziehen. Auch darf man McCarthy keineswegs böswillig verfälschende Absichten unterstellen.

Doch die Philologie hilft der Philosophie hier derart auf die Sprünge, dass man gut und gerne behaupten kann, mit der Kritischen Ausgabe ein neues Buch zu lesen. Gut tausend Seiten der auf zwei Bände verteilten knapp 1700 Seiten bestehen aus Kommentaren, Anmerkungen und Materialien. Es sind nicht die Gedanken selbst, die unvertraut wirken. Es ist die Art und Weise, sie zusammenzufügen und insbesondere der Umgang mit Zitaten.

Laxheit in Fragen geistigen Eigentums?

Arendt kompiliert sie gerne aus verschiedenen Quellen und Übersetzungen, um die Herkunft dann wieder zu verschleiern. Was sie um eines bestimmten Arguments willen hinbiegt und wo bei ihr eine gewisse Laxheit in Fragen geistigen Eigentums herrscht – das lässt sich, wenn überhaupt, erst jetzt nachvollziehen.

Ein entscheidender Faktor dabei ist Arendts Kunst, sich zwischen mehreren Sprachen zu bewegen. Neben dem offensichtlichen Navigieren zwischen dem Deutschen und dem Englischen schlägt sie sich bei ihren Zeugen auch durchs Unterholz des Griechischen, Lateinischen und Französischen. Was diese für eine politische Theoretikerin einzigartige Pluralität der Sprachen bedeutet, ist eine eigene Untersuchung wert. Jedenfalls unterscheidet es sich sowohl von der unfreiwilligen Farblosigkeit, in die sich Siegfried Kracauer mit einem vollständigen Sprachwechsel im amerikanischen Exil begab, wie von der bewussten Armut, die der im Englischen so virtuose und vokabelreiche Samuel Beckett im Französischen suchte.

„The Life of the Mind“ war von Arendt als Fortsetzung von „The Human Condition“ – im Deutschen: „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ – konzipiert. Lange geplant und im Rahmen der Gifford Lectures im schottischen Aberdeen zum ersten Mal vortragsreif entwickelt, brauchte es allerdings den Weg über „Eichmann in Jerusalem“. Es war dies jener eigentümliche Prozessbericht, über den an der Planung des Holocaust maßgeblich beteiligten und vor dem israelischen Gericht schließlich zum Tode verurteilten SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, in dem sie den Begriff von der Banalität des Bösen prägte.

Waffen gegen das Böse

„Könnte die Tätigkeit des Denkens als solche“, fragt Arendt in der Einleitung zu „The Life of the Mind“, „die Gewohnheit, alles zu untersuchen, was sich ereignet oder Aufmerksamkeit beansprucht, unabhängig von den Ergebnissen und ihrem spezifischen Inhalt, könnte diese Aktivität zu den Bedingungen gehören oder Menschen sogar tatsächlich so „konditionieren“, dass sie sich von bösem Tun fernhalten?“

Arendt hatte in Eichmanns Verbrechen eine Gedankenlosigkeit gewittert, gegen die sie ihre Auffassung einer widerständigen vita contemplativa starkmachen wollte. In der Trias von Denken, Wollen und Urteilen, die ihr für die Bücher vorschwebte, deutet sich an, dass Arendts Begriff von Denken weit oberhalb eines bloßen Assoziierens ansetzt. Er ist aufs Gegenständliche fokussiert, aufs Intentionale (Wollen) und die Unterscheidung von wahren und falschen Sätzen (Urteilen).

Inwiefern dieses Denken tatsächlich dazu taugt, sich von moralischen Abgründen fernzuhalten – das kann wohl erst eine erneute Lektüre dieses Textes klären: Schon der zweite Teil wurde seinerzeit kaum noch rezipiert. Auf Anhieb einleuchtend klingt aber der Hinweis des Mitherausgebers Wout Cornelissen, dass „The Life of the Mind“ wichtige Kriterien für die Leistungsfähigkeit Künstlicher Intelligenz bereitstellen könne. An solche Kontexte konnte Arendt im Traum noch nicht denken.

Hannah Arendts ungebrochene Anziehungskraft besteht nicht zuletzt darin, dass sie als Philosophin den universitären Katheder so scheute wie den Küchentisch. Ihre Texte sind gelehrt, aber auch pointiert und stilistisch geschliffen, und sie greifen auf Platon und Aristoteles nicht weniger zurück als auf die moderne Literatur und Dichtung.

Der Weg von Augustinus zu W.H. Auden ist, um nur ein Beispiel aus „The Life of the Mind“ zu nennen, gerade ein paar Sätze lang, ohne die unterschiedlichen Arten von Erkenntnis einzuebnen. Was immer die Welt an mehr oder weniger klugen Arendt-Brevieren in den nächsten Jahren noch erwarten mag – in den Textschluchten der Kritischen Ausgabe liegt ein Ausgangspunkt, um den man nicht mehr herumkommt.

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