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Die Schriftstellerin Ronya Othmann

© dpa/Stefan Sauer

Schriftstellerin Othmann über den Genozid an den Jesiden: „Meine Welt ist nach dem 3. August 2014 nicht mehr dieselbe wie zuvor“

Ronya Orthmann ist Tochter einer Deutschen und eines Jesiden. Im Interview spricht sie über ihre Reise in den Irak und die Schwierigkeiten, eine Sprache zu finden für ihren Roman „Vierundsiebzig“.

Frau Othmann, würden Sie gleich zu Beginn einmal erklären, wofür die Zahl „Vierundsiebzig“ steht? So lautet der Titel Ihres neuen Romans.
Es hieß lange Zeit, dass es 72 Massaker an den Jesiden gegeben habe, Ferman genannt. Ferman ist ein Wort aus dem Osmanischen, es heißt Befehl, Erlass. Seit dem 7. Jahrhundert sind Übergriffe auf Jesiden überliefert. Ab dem 16. Jahrhundert nahm die Verfolgung noch einmal stark zu. Es gab dann 2007 in zwei irakischen Dörfern Massaker durch Al-Quaida, die gelten als Nummer 73, und der Genozid am 3. August 2014 durch den IS im Shingal ist Nummer 74, darum diese Zahl.

Warum haben Sie für Ihr Buch diesen Titel gewählt?
Ich versuche den Ereignissen des 3. August 2014 und was sie für die Jesiden bedeuten, auf den Grund zu kommen. Die Zahl 74 steht inzwischen stellvertretend für ihr Schicksal.

Ich war 2015 auf der Hochzeit einer Frau, die vom IS verschleppt worden ist. Sie war zu der Zeit verlobt und wurde von ihrem Mann mit befreit, er hatte sich den Peschmerga angeschlossen. Beide konnten nach Deutschland fliehen, und ihre Hochzeitstorte war dann mit Kerzen geschmückt, die die Zahl 74 bildeten.

Wann haben Sie an diesem Buch angefangen zu arbeiten?
Ich bin 2018 zu meiner Familie nach Kurdistan gefahren, mit dem Flugzeug nach Erbil, ein bisschen planlos, um ehrlich zu sein. Ich wusste da noch nicht so genau, was ich machen wollte und ob ich über den Genozid schreiben sollte.

Vor 2011 bin ich jeden Sommer zu meinen Großeltern nach Syrien gefahren, aber in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak war ich noch nie. Ich habe dort Verwandte getroffen, die ich als Dreijährige das letzte Mal gesehen hatte. Wir haben Verwandte in Syrien, mein Vater ist dort als Sohn kurdischer Jesiden geboren worden und aufgewachsen, und wir haben Verwandte, die 2014 im Shingal lebten, also im Norden Iraks. 

Sind Sie privat oder als Journalistin gefahren?
Privat, um meine Familie zu besuchen. Ich dachte, dass ich vielleicht etwas schreiben würde, weil ich immer schreibe. Und ich wusste natürlich auch, wohin ich fahre, vier Jahre nach dem Genozid.

Obwohl der IS die Autonome Region Kurdistan glücklicherweise nie eingenommen hat, war der Genozid überall präsent. Ich war ja unter Jesiden. Das war ein Schock. Schon allein der Besuch in einem der Flüchtlingscamps bei Arbat, nahe der iranischen Grenze. Eine umzäunte Zeltstadt, zahlreiche traumatisierte Menschen. Nachts, sagte man mir, höre man die Leute schreien im Schlaf. 

Die jesidische Kultur war über die Jahrhunderte eine schriftlose gewesen, alles, was über sie geschrieben wurde, kam aus zweiter Hand.

Ronya Othmann

Hatten Sie keine Angst, allein in die Region zu fahren?
Nein. Ich war ja immer bei Verwandten oder bei Freunden von Verwandten. Man passt aufeinander auf, das sind sehr enge Bindungen. Allein ist es nicht so einfach, dort unterwegs zu sein, erst recht als alleinreisende, unverheiratete Frau. So war ich einerseits gut geschützt, konnte mich aber andererseits nicht immer so frei bewegen, wie ich es gern gewollt hätte. Ich bekam dann noch ein Recherchestipendium von der Robert-Bosch-Stiftung für die Türkei. Ich fuhr in den Südosten, in die kurdischen Gebiete, wo es früher viele jesidische Dörfer gab. Ich habe auch dort recherchiert.

Nun erzählen Sie in „Vierundsiebzig“ nicht nur eine Geschichte über diesen Genozid, sondern auch, was Sie selbst für Schwierigkeiten hatten, diese zu erzählen. Das läuft als Tonspur immer mit.
Ich habe beobachtet, dass die Leute entweder die ganze Zeit über 2014 gesprochen haben oder gar nicht. Ich erinnere mich an eine Feierlichkeit, da wurde Musik gespielt, gegessen und getrunken, und etwas abseits saß ein junger Mann, der sich auf seinem Smartphone die ganze Zeit Hinrichtungsvideos anschaute. Ich erinnere mich an eine alte Frau in einem Flüchtlingscamp, die seit den Ereignissen kein Wort mehr gesprochen hatte. Die Sprachlosigkeit hatte sich in ihren Körper eingeschrieben. Ich wusste nicht, wie eine Sprache dafür finden. Aber welche Sprache? Das journalistische Werkzeug schien mir unzulänglich. Ich wollte dokumentieren und mich selbst wie mit einer Kamera bei diesem Dokumentationsprozess filmen. Alles ist Zitat. 

Ronya Othmann: Vierundsiebzig. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 508 Seiten, 26 €.

© Rowohlt; Gestaltung: Tagesspiegel

Sie haben dann aber auch versucht, historische Zeugnisse über die Geschichte der Jesiden zu finden. Warum?
Die jesidische Kultur war über die Jahrhunderte eine schriftlose gewesen, alles, was über sie geschrieben wurde, kam aus zweiter Hand. Im 19. Jahrhundert sind zahlreiche Archäologen in die Region gereist, Missionare, Forschungsreisende, Gesandte. Ihre Berichte habe ich gelesen.

Einer von ihnen war der britische Archäologe Austen Henry Layard, der sehr viel Zeit bei den Jesiden verbrachte und wahrscheinlich der erste Europäer war, der das Heiligtum Lalish besuchte. Er hat wirklich sehr detailliert geschrieben, und er war dabei, als jesidische Dörfer überfallen und geplündert wurden, wie deren Bewohner getötet und versklavt wurden.

Als ich das las, brach gewissermaßen die Gegenwart über mich hinein. Seine Sprache ist eine des 19. Jahrhunderts – aber die Verbrechen, von denen er berichtet, erinnern an das, was der IS 2014 getan hat. 

Hatten Sie denn in Ihrer Kindheit und Jugend von Ihrem Vater auch darüber gehört?
Ja. Er erzählte mir und meinen drei Geschwistern schon einiges, mehr noch aber meine Großmutter. Jeder Jeside kennt Geschichten von Verfolgungen, die von Urgroßvätern oder Großtanten. Die kamen mir aber immer wie Gruselgeschichten aus einer anderen Zeit vor. Wenn man ein Kind ist, kommt einem die Kindheit der Großeltern wahnsinnig weit weg vor.

Natürlich gab es auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Jesiden-Verfolgung in der Türkei, und im Irak wieder verstärkt nach dem Ende von Saddam. Das wusste ich natürlich, doch ich lebte in dem hoffnungsvollen Glauben, dass es doch irgendwie nach vorne gehen würde. Dann kam der 3. August 2014, und die Vergangenheit wurde zur Gegenwart. Der IS hat ja seine Taten offen ausgestellt. 

Viele Jesiden in Syrien verstanden sich als Kurden. Und als meist staatenlose Kurden wurden sie unter dem Assad-Regime diskriminiert.

Ronya Othmann

Was war für eine Stimmung in den Sommern im Dorf Ihrer Großeltern, lange vor 2014?
Meine Großeltern waren misstrauisch, sie haben ja die Verfolgung in ihrer Kindheit erlebt. Der Vater meiner Großmutter wurde ermordet. Sie sind aus dem Gebiet der heutigen Türkei in den Shingal geflohen, und vom Shingal dann nach Syrien. Dort in der Region war es ein wenig anders. Es gab Freundschaften, die Leute haben sich jeweils zu den Hochzeiten eingeladen. Religion spielte keine so große Rolle, so war zumindest mein Eindruck. Viele Jesiden in Syrien verstanden sich als Kurden. Und als meist staatenlose Kurden wurden sie auch im Assad-Regime diskriminiert. 

Von meinem Vater weiß ich, dass er in der Schule als „Teufelsanbeter“ beschimpft wurde, das ist eins der Vorurteile gegenüber Jesiden. Andere Schüler aber haben ihn in Schutz genommen, kurdische Schüler, auch muslimische. Es war in Syrien nicht so extrem wie in der Türkei oder im Irak, da gab es auch relativ viele Atheisten.

Dann kamen die Proteste gegen Assad, der Arabische Frühling, und Assad bekämpfte die Säkularen und ließ die Islamisten aus den Gefängnissen. Er unterstützte ja schon seit 2003 Al-Qaida im Irak. Im Zuge des Bürgerkriegs wurden die Islamisten stark, der IS trat in Erscheinung, ganze Landstriche brachten sie unter ihre Kontrolle.  Wir haben von Deutschland aus versucht, meine Großmutter, meine Tante, meinen Onkel und deren Kinder aus Syrien herauszubekommen, es gab ja Kontingente für Familienangehörige.

Aus einem Genozid kann man keine runde Erzählung machen. Es gibt nur Trümmer.

Ronya Othmann

Wie haben Sie selbst die Ereignisse von 2014 erlebt?
Ich wurde angerufen, dass irgendwas im Shingal passierte. Das geschah alles sehr plötzlich. Die Peschmerga zogen ab, der Shingal war schutzlos, die IS-Mörder fielen in die Dörfer ein. Es gab Leute, die sehr schnell verstanden haben, was Sache ist. Dann wieder welche, die das nicht wahrhaben wollten, die glaubten, ihre muslimischen Freunde und Nachbarn würden zu ihnen stehen.

In unserer Familie in Deutschland saßen alle vor dem Fernseher, und wir waren dann auf Demos, ich in München, meine Schwester in Hannover. Das war schlimm, weil da auch Leute dabei waren, die Verwandte hatten, die ermordet wurden. Viele sind zusammengebrochen auf diesen Demos. Ich erinnere mich an Islamisten am Straßenrand, die uns beschimpften. Die Polizei musste dazwischen gehen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass jedes Schreiben für Sie Fiktion sei. Wie ist das zu verstehen? Ihr Buch ist offensichtlich kein Roman. Ist dieses Bestehen auf die Fiktion ein Selbstschutz?
Nein, das ist es nicht. Was klar war: Ich konnte mir nichts ausdenken. Ich wurde Zeugin, als ich 2018 und dann 2019 und 2022 in Kurdistan und im Irak war. Und: Aus einem Genozid kann man keine runde Erzählung machen. Es gibt nur Trümmer. Man hat die Dokumente der Überlebenden, der Zeugen. Und dann die Bilder, die vom IS kamen. Die Bilder der Täter, Propagandamaterial. Die Bilder sind inszenierte Bilder, auf eine Art fiktiv, das Morden jedoch, das sie zeigen, ist es nicht. 

Die Verbrechen haben etwas Jenseitiges, das über alles Zivilisatorische hinausgeht: aufgespießte Köpfe auf Zäunen in Rakka, gekreuzigte Menschen, die Sklavenmärkte mit den jesidischen Frauen oder die Verbrennung des jordanischen Piloten. Man könnte meinen, es wäre aus einem Horrorfilm entnommen. Weil sie so jenseitig sind, haben diese Verbrechen allein etwas Fiktives, obwohl man weiß, dass das nicht stimmt. Ich musste damit arbeiten. Ich konnte das nicht fiktional erzählen.

Im Grunde war es ein wenig so, als würde ich versuchen, auf Papier einen Gerichtsprozess zu führen. Ich habe Überlebende befragt, Beweise herangezogen, versucht, eine Wahrheit zu finden. Ich habe zitiert, Form und Sprache. Es ist ja ein Bericht, es ist ein Protokoll, ein Essay, eine Reiseerzählung. Ich bin immer wieder gescheitert. Es geht auch um die Sprache, den Rhythmus, Satzanfänge, ästhetische Fragen auch in so einem Buch. All das will montiert und arrangiert werden, das meine ich mit Fiktion, deswegen steht da Roman drauf. 

Ihre Mutter ist Deutsche, Ihr Vater Jeside, wie ist das bei Ihnen? Fühlen Sie sich als Jesidin? Ihre Schwester, so schreiben Sie es in Ihrem Buch, sagt ganz klar „Ja“, Ihre beiden Brüder ganz klar „Nein“.
Ich habe das für mich noch nicht abschließend beantwortet. Nach den jesidischen Heiratsregeln sind wir keine Jesiden. Und solange es keine Reform gibt, ist das so. Andererseits versichern uns viele Verwandte wiederum, wir seien es. Das aber interessiert meinen atheistisch veranlagten Vater nicht. Von der Verfolgung hat er uns seit unserer Kindheit erzählt, von den Glaubensinhalten aber kaum etwas. 

Ist der Genozid im Nachhinein gemeinschaftsstiftend?
Ja und nein. Man wird auf eine brutale Weise auf seine jesidische Identität zurück geworden, auch in der Diaspora. Mein Eindruck ist, dass man angesichts der Auslöschung noch einmal sehr am Kastensystem und an den Heiratsregeln festgehalten hat.

Andererseits ist es schwierig, gerade in der Diaspora, diese Regeln aufrechtzuerhalten. Seit dem Genozid leben die Jesiden in der ganzen Welt verstreut, in Australien, Deutschland, Kanada, Frankreich. Und dann die Lage im Irak: Überall sind dort jetzt die Iran-treuen Milizen, auch im Shingal, es leben in dieser Gegend überhaupt nur noch ein paar tausend Jesiden.

Als ich dort war, waren viele Dörfer komplett leer, und was hilft es schon, dass die UN, das Europäische Parlament und auch der Deutsche Bundestag das, was am 3. August 2014 geschah, als Völkermord anerkennen, wenn nichts daraus folgt? In Gefahr sind die Jesiden in der Region weiterhin, es gibt Hetzkampagnen, und viele IS-Leute sind wieder in der gemeinen Bevölkerung abgetaucht. Der Irak ist ein „failed state“. Wie soll es da eine Zukunft geben? Es gibt dort keine Prozesse wegen des Genozids, die Vergewaltigungen des IS spielen keine Rolle, der IS mordet weiterhin, das bekommt man in Deutschland nur nicht so mit. 

Verstehen Sie sich als Emissärin der Jesiden, gerade mit diesem Buch? Wie ist da Ihre Rolle?
Schwierig zu sagen. Ich habe nur ein Buch geschrieben. Das ist ein Dokument, und es ist mir wichtig, über all das zu schreiben und zu reden. Ich bin keine Aktivistin, mich interessiert nur das Schreiben, und eigentlich interessiert mich auch Politik nicht. Wenn man jedoch solche Dinge gesehen hat wie ich, muss man Zeugnis ablegen.

Wahrscheinlich werde ich weiter daran schreiben, weil ich doch immer wieder an Grenzen stoße. Das war bei meinem Gedichtband „Die Verbrechen“ so, bei meinem Roman „Die Sommer“, bei dem es mehr um Erinnerungen ging, und das ist jetzt wieder so. Ohne den Genozid könnte ich vielleicht andere Geschichten erzählen, nur strahlt der jetzt in alles rein. Meine Welt ist nach dem 3. August nicht mehr dieselbe wie zuvor.

Zuletzt wurden Sie im pakistanischen Karachi auf einem Literaturfestival wieder ausgeladen, nachdem Ihnen in einem Offenen Brief eine antimuslimische, zu Israel-nahe, zionistische Haltung vorgeworfen worden war. Hatten Sie nicht sowieso Bedenken gehabt, dort hinzureisen?
Eigentlich nicht. Ich hatte nur Sorge wegen eines indischen Stempels in meinem Reisepass, weil ich vorher in Indien war. Ansonsten hatte ich mir nicht so viele Gedanken gemacht. Deshalb war ich dann auch schon vor Ort. Wer interessiert sich schon in Pakistan für mich? Eine junge deutsche Autorin, die keiner dort kennt.

Sie meinen also, dass die Hinweise aus Deutschland oder Europa kamen, sich Ihre Haltung zum Nahostkonflikt beispielsweise näher anzuschauen?
Absolut. Da gab es meine Moderatorin aus York, die, nachdem ich angereist war, absagte und sagte, sie wolle nicht mit einer Zionistin auf einer Bühne sitzen. Wie sich herausstellte, hatte sie auch nichts von mir gelesen. Auch die Initiative des Offenen Briefes ging ja nicht von Karachi aus, und die Organisatoren des Festivals sagten, sie hätten meinen Background sogar gecheckt.

In dem Brief stand, dass ich einmal einen Aufruf zu „Artists against Antisemitism“ unterschrieben hatte, das hatte ich selbst schon vergessen. Und es gab Screenshots von uralten Tweets von mir. Das war alles vorbereitet, da hat jemand vorher gesammelt. Doch im Grunde ging es nicht um meine Haltung zum Nahostkonflikt, es war kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung, die Dinge, wurden verkürzt, aus dem Kontext gerissen. Es ging mehr um eine Diffamierung. Aber so etwas wird noch viel häufiger passieren.

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