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Simon Rattle beim Auftritt mit dem London Symphony Orchestra in der Berliner Philharmonie am 28.8.2023.

© PR/Fabian Schellhorn

Simon Rattle dirigiert Mahler: Apokalypse rau

Simon Rattle und das London Symphony Orchestra beeindrucken beim „Musikfest Berlin“ in der Philharmonie mit einer radikalen Interpretation von Gustav Mahlers neunter Sinfonie.

Simon Rattle ist mal wieder auf Abschiedstournee, diesmal mit dem London Symphony Orchestra. Sechs Jahre hat er in der vom Brexit gebeutelten britischen Hauptstadt mit darum gerungen, das musikalische Niveau aufrechtzuerhalten, jetzt zieht sich der 68-Jährige ins reiche München zurück. Bevor er am 21. September seinen neuen Job beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks antritt, macht der langjährige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker in seiner früheren Wirkungsstätte Station, als Stargast beim „Musikfest Berlin“.

Gustav Mahlers neunte Sinfonie hat sich Simon Rattle ausgesucht für sein Farewell-Programm, das opus ultimum des von ihm so sehr verehrten Komponisten, ein Werk des Abschieds, dessen Finalsatz zu den intimsten, bewegendsten Momenten der Musikgeschichte gehört.

Radikal emotional

Gerade fünf Monate ist es her, dass Rattle Mahlers Neunte in Berlin aufgeführt hat, gemeinsam mit der hiesigen Staatskapelle. Damals hatte er sich ganz auf den dunklen, dichten Klang des traditionsstolzen Orchesters eingestellt, Details beleuchtet, die sonst kaum Beachtung finden, eine beglückende Sphäre des Jenseitigen eröffnet.

Mit dem London Symphony Orchestra geht er das 80-minütige Werk jetzt ganz anders an, nämlich radikal emotional. Offen, ungeschützt, verletzlich ist der Tonfall von den ersten Takten an, schrill gehen die Geigen in die hohen Lagen. Da gibt es kein Nach-innen-Horchen: Der Schmerz muss raus.

Vielfache Sorgen trieben Gustav Mahler um, als er 1910 über der Partitur saß. Er sah, wie morsch der Boden geworden war, auf dem die k.u.k. Monarchie ihren dekadenten Glanz entfaltete, er litt an der unrettbaren Zerrüttung seiner Ehe, er spürte die eigene Vergänglichkeit, ahnte sein nahendes Ende. Die neunte Sinfonie sollte er tatsächlich zu Lebzeiten nicht mehr zu hören bekommen.

Es geht um Existenzielles

Simon Rattle arbeitet die Seelenqualen mit dem London Symphony Orchestra am Montag geradezu extremistisch heraus, auf allen interpretatorischen Ebenen. Ganz schmal nur sind die Fenster, durch die sich hin und wieder ein Blick in spätromantische Idyllen bietet, selbst die ruhigen Passagen werden von nervöser Spannung durchbebt.

Aber besonders dort, wo sich das riesig besetzte Orchester im Tutti zum Fortissimo ballt, wirkt diese Musik radikal modern, gedanklich gar den Jahrzehnte später entstandenen Kriegssinfonien von Dimitri Schostakowitsch verwandt. Apokalypse rau. Hier geht es um Existenzielles, um Leben und Tod. Das London Symphony Orchestra lässt sich ein auf Rattles düstere Visionen, scheut auch nicht vor dem Hässlichen zurück.

Vergiftete Heiterkeit

In ausweglose Einsamkeit mündet der erste Satz - und vergiftet damit auch die beiden folgenden, die doch eigentlich als heitere Zwischenspiele gelten. Doch dem Ländler und der Burleske glaubt man ihre Jovialität nicht mehr, so wie Rattle sie dirigiert. Da ist was faul im Staate Österreich, das sind doch Lemuren, die da tanzen zu Triangel und kecker Klarinette.

Kurz schimmert eine filmmusikhafte Morgenröte auf, sehnsuchtsvoll singt die Solo-Bratsche, doch bald schon marschieren wieder schwere Stiefel. Wobei es scheint, als liefen mehrere Regimenter kopflos durcheinander. Mahler zitiert nur leicht verfremdet „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“ aus der „Lustigen Witwe“ - auch in Schostakowitschs „Leningrader“ Sinfonie taucht fratzenhaft der Operettenstar Franz Lehár auf.

Wie eine brennende, sehrende Wunde erscheint das Finale unter Simon Rattles Händen. Ein Klagegesang der vielen, dringlich, himmelwärts strebend, soghaft-intensiv im kollektiven Zusammenklang. Einmal noch bäumt er sich auf, der Klangkörper, dann vergeht die Musik ins Nichts. Erschütterung im Saal. Dann haltloser Jubel.

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