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Kriegstagebuch

© Oksana Shchur

Ukrainisches Kriegstagebuch (168): Von kulturellen Kontinuitäten

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

9.9.2023
Diese Tage bin ich wegen zwei Veranstaltungen in Köln. Die erste fand gestern statt. Von den einen Organisatoren habe ich eine Adresse bekommen, die aus irgendeinem Grund vertraut wirkt. Erst als ich vor dem „Orangerie Theater“ stehe, fällt es mir wieder ein – im Herbst 2022 führten meine Musikerkolleginnen und ich hier unsere Vorstellung „The Songs For Babyn Yar“ vor. Eine von ihnen, Mariana Sadovska, hatte damals am Programm des Urbäng! Festivals mitgewirkt, das die Ukraine als Schwerpunkt hatte, und ich kam einen Tag früher aus Berlin, um Serhij Zhadan zu sehen und sein Projekt Linija Mannergejma live zu erleben. 

Die Dramaturgin Anastasiia Kosodii ist auch da – zwei Tage nach unserer Aufführung sollte beim Festival eine szenische Lesung ihres Stücks über die Lage der gefangenen Krimtataren in russland stattfinden. Wir hatten uns in den vergangenen Monaten in Berlin oft verpasst. Umso mehr freue ich mich, sie wiederzusehen. Wir plaudern im Hof, während sich die Türen des Saals öffnen und das Publikum hereinströmt. Als auch ich irgendwann drin bin, kann ich Anastasiia nicht sehen. Ich finde sie draußen, rauchend. Sie hat die Nachricht bekommen, dass ein alter Bekannter von ihr bei Bakhmut gefallen ist. Im Saal legt die Band los. Wir stehen auf der Treppe vor dem Eingang und schweigen. 

Liebe, nicht Krieg

Heute wache ich in einem viel zu engen Hostelzimmer auf, das die Veranstalter für mich gebucht haben. Es befindet sich im vierten Stock, direkt unter dem Dach, draußen waren es gestern 30 Grad, drinnen fühlte es sich wie 40 an. Die Bar im Erdgeschoss des Hostels hatte sich mittlerweile in den Frühstücksraum verwandelt. Ich trinke meinen Kaffee und entdecke die Inschrift auf der Tafel hinter der Theke: „Bei uns wird Kiev Mule serviert Make love not war (mit Ukrainian vodka)” Daneben ist ein Friedenszeichen gezeichnet. 

Ich frage mich, an wen dieser Slogan eigentlich gerichtet ist. Sollten ihn eher die Kölner oder die Hostelgäste beherzigen? Die russischen Streitkräfte hätten sicherlich bevorzugt, dass die Ukrainer keinen Krieg mehr machen, da sie so ihre Ziele schneller erreichen könnten. Aber vielleicht ist dieser Gedanke in Köln nicht klar verständlich.

Anknüpfen an Tradition

Bereits um 11 Uhr treffe ich mich mit meiner Gitarre im Ludwig Museum für den Soundcheck ein. Hier läuft seit Juni die Ausstellung „Echo der ukrainischen Moderne“, von der ich schon so viel Positives gehört habe. An diesem Wochenende haben das Ukrainische Institut und die Bundeszentrale für Politische Bildung ein eindrucksvolles Rahmenprogramm zusammengestellt, und ich bin stolz, ein Teil davon zu sein.

Wenn ich mir das Programm anschaue, bedauere ich, dass ich nicht als Zuschauer teilnehmen kann. Gestern hielt der Kiewer Philosoph Vakhtang Kebuladze einen Vortrag, danach begleitete Mariana Sadovska live den Film „Die Erde“ aus dem Jahr 1929. 

Heute darf ich dem Publikum mit meinen Kolleginnen Irena Karpa und Lyuba Yakimchuk die Fortsetzung vom Fokstroty-Projekt präsentieren. Seit Monaten arbeiten die Kuratorin Oksana Shchur und ich daran. Was 2021 als Vertonung der Poesie ukrainischer Futuristen aus den 1920er Jahren begann, entwickelt sich gerade zu etwas völlig Neuem: Die 2021 von Serhij Zhadan und mir auf dem ersten Fokstroty-Album veröffentlichten Lieder werden nun mit neuen Texten in Englisch, Deutsch, Französisch und Jiddisch versehen. 

Gestern Abend führte ich eine Diskussion über den neuen jüdischen Sound in Deutschland im Hof des Orangerie-Theaters. Heute wird mir bewusst, dass sich unsere Vorgehensweise kaum von der unserer jüdischen Musikerkolleg*innen unterscheidet. Wir alle streben danach, an die Tradition anzuknüpfen, die in den 1930er Jahren auf grausame Weise unterbrochen wurde. Stellen Sie sich vor, jüdische Musiker*innen, Künstler*innen und Autor*innen hätten die Shoah überlebt. Stellen Sie sich vor, die ukrainische Kultur wäre in den 1930er Jahren nicht beinahe vollständig ausgelöscht worden. 

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