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Joe Biden.

© AFP/TIMOTHY A. CLARY

Bidens Rede vor der UN-Generalversammlung: Die Macht des Westens schrumpft

Der amerikanische Präsident setzt weltweit auf Kooperation. Sein Bekenntnis zum Multilateralismus atmet den Geist von morgen.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Er streckt seine Hände aus, in alle Richtungen. Amerika will Partnerschaft, Kooperation, Zusammenarbeit. „Unsere Feinde können unsere Partner werden“, sagt US-Präsident Joe Biden vor der UN-Generalversammlung. „In jeder Region gehen wir Bündnisse ein, engagieren uns für die Menschen auf der ganzen Welt.“ Selbst in Richtung China klingt der 80-Jährige erstaunlich milde. Man wolle Risiken abbauen, keinen Konflikt.

Erst ganz am Ende seiner Rede kommt Biden auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu sprechen. Da indes wechselt seine Stimme ins Kämpferische. Die Sicherheit aller Nationen stehe auf dem Spiel, dem Aggressor müsse die Stirn geboten werden. „Russland allein steht dem Frieden im Weg.“

Es geht ihm um die Stimmung in der Welt. Amerika will sein Image verbessern, die Rolle als Weltpolizist lehnt Biden ab. Andererseits braucht er Partner, um gegenüber Wladimir Putin mit globaler Legitimität auftreten zu können.

Biden hat die Moral und das Völkerrecht auf seiner Seite

Vor rund zwanzig Jahren, im März 2003, begann die amerikanische Invasion in den Irak. „Shock and Awe“, Angst und Entsetzen wurden verbreitet. Es war ein Angriffskrieg, geführt unter einem Vorwand und ohne Mandat der Vereinten Nationen.

Kritiker hatten den damaligen US-Präsidenten George W. Bush gewarnt: „You break it, you own it“ – die alte Porzellanregel - was du kaputt machst, musst du bezahlen. Eine ähnliche Regel gilt auch jetzt, gut anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine. „You support it, you own it“ – was du unterstützt, bleibt mit dir verbunden. Dabei hat Biden die Moral und das Völkerrecht klar auf seiner Seite.

Amerika unterstützt die Ukraine mit Waffen, Munition, Ausrüstung und Finanzen wie kein anderes Land. Biden sagt, das werde getan, „solange es notwendig ist“. Doch der Rückhalt bröckelt. Eine Mehrheit der Amerikaner lehnt weitere Hilfen ab. Viele Republikaner warnen vor einem „zweiten Afghanistan“. In 14 Monaten wird ein neuer Präsident gewählt.

Die westliche Perspektive ist nur eine unter vielen

Die Uhr tickt also – und die Welt ist aus den Fugen. Krieg in der Ukraine, Militärputsch in Niger, Krieg von Aserbaidschan gegen Armenien, chinesische Militärmanöver vor Taiwan, weltweit mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht, Erdbeben und Überschwemmungen.

Aus westlicher Perspektive steht der Krieg in der Ukraine im Vordergrund. Doch im Rahmen der Vereinten Nationen ist die westliche Perspektive nur eine unter vielen. Vielleicht ist sie nicht einmal die wichtigste. An dieser Stelle schließt sich der Bogen zum Irakkrieg. Denn der hat die Sicht vieler Menschen – in Afrika, Asien, Lateinamerika – auf den Westen negativ geprägt. Der Vorwurf lautet: Doppelmoral. Geht es wirklich um die Verteidigung von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie?

Viele Ziele des Westens werden durchkreuzt

Vor einem Monat hat sich die sogenannte Brics-Gruppe wichtiger Schwellenländer um sechs Staaten erweitert. Bislang gehörten dem Staatenbund Südafrika, Brasilien, Russland, China und Indien an. Nun kommen Saudi-Arabien, der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Argentinien, Ägypten und Äthiopien hinzu. Das ist eine eindrucksvolle Liste. Viele Ziele des Westens werden durchkreuzt. Seine Macht schrumpft.

Russland isolieren? China eindämmen? Iran in die Knie zwingen? Die neue Weltunordnung wird charakterisiert durch wechselnde Allianzen und das Bestreben, kein Land dominieren zu lassen. Darauf muss sich der Westen einstellen. Seine Möglichkeiten, durch Wirtschaftssanktionen Druck auszuüben, sind an Grenzen gestoßen. Die Bereitschaft seiner Bevölkerung, Truppen zu entsenden, schwindet.

Bidens Rede, sein Bekenntnis zum Multilateralismus, atmete den Geist von morgen. Freilich hätte er auch Vorbehalte gegen den Westen entkräften können, indem er dessen Fehler benennt: den Irakkrieg, den Egoismus in der Covid-Pandemie, die Hauptschuld am Klimawandel, die Ausbeutung der Rohstoffe.

Malte Lehming

© Tagesspiegel/Nassim Rad

Moral, die überzeugen will, muss wahrhaftig sein. Sie soll auch Unliebsames aussprechen und weder Scheu noch Scham als Hinderungsgründe akzeptieren. Autokraten geben grundsätzlich keine Fehler zu. Sie glauben, dass ihnen das schaden würde. Demokraten könnten schlauer und selbstbewusster sein. Mit aller Demut für die richtigen Werte einzustehen: Das sollte ihre Botschaft sein.

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