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Meinung: Nationaler, klerikaler – und in Zukunft abgewandt

Der Kanzler ist Ehrengast am 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands Doch die Epoche der deutsch-polnischen Aussöhnung geht zu Ende

Wir sollten sie dankbar betrachten, die Szenen gegenseitiger Achtung und äußerer Harmonie. Gerhard Schröder neben den Ehrenformationen und Veteranen des Warschauer Aufstands. Der Kanzler, wie er sich am Denkmal vor den Opfern verneigt – 60 Jahre, nachdem deutsche Truppen den Befehl hatten, die polnische Hauptstadt so zu zerstören, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Und Schröder in herzlichem Einvernehmen mit Duzfreund, Präsident Aleksander Kwasniewski. Gut möglich, dass wir uns bald nach solchen Bildern sehnen – Zeugnisse einer Epoche, die vorüber ist: die Jahre einer ausgesprochenen Versöhnungsbereitschaft von Polen und Deutschen.

Viele möchten in Gerhard Schröders Besuch in Warschau kein Ende sehen, sondern die Krönung des geduldigen Bemühens um eine Annäherung, die eine große Zukunft vor sich hat. Das Jahr 2004 ist überhaupt reich an Ereignissen, die diese Sicht stützen. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ist der neue Bundespräsident nicht zuerst nach Westen gereist. Horst Köhler fuhr nach Warschau. Die Zwangsarbeiter-Stiftung vermeldet, dass die Entschädigung der betroffenen Polen abgeschlossen ist. Seit dem 1. Mai sind Deutschland und Polen gleichberechtigte Partner in der EU, 15 Jahre nach dem Ende des Ost- West-Konflikts und der demokratischen Wende in Polen, die den Deutschen den Weg zur Einheit öffnete. Die Feinde von einst sind Verbündete, nicht nur in der Nato, sogar in einem trilateralen Korps mit den Dänen – auch das eine Wende, die sich überraschend selbstverständlich vollzog. Wenige Jahre zuvor hätten Westdeutsche und Polen als Angehörige von Warschauer Pakt und Nato im Zweifel aufeinander geschossen, der Kalte Krieg hatte die Feindschaft der Nazizeit um mehr als ein halbes Menschenleben verlängert.

Der Wunsch nach guter Nachbarschaft, so die hoffnungsfrohe Interpretation, überwindet die Vergangenheit. Es gibt eine neue Interessengemeinschaft, sie funktioniert. Noch hat das deutsch-polnische Verhältnis nicht die Selbstverständlichkeit und Nähe des deutsch-französischen erreicht, aber der über vier Jahrzehnte gewachsene Rückstand ist rasant geschrumpft. Wird man nicht bald schon von Normalität sprechen dürfen?

Am 20. Juli hat Schröder eine Linie vom Widerstand einiger Wehrmachtsoffiziere gegen Hitler zum Warschauer Aufstand gezogen: „ein flammendes Zeichen auf dem Weg zu einer wahren europäischen Identität“. Bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie hatte er diesen „längsten Tag“, der die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches einleitete, als „Sieg für Deutschland“ interpretiert. Die ehemaligen Feinde gedenken Hand in Hand. „Die Nachkriegszeit ist endgültig zu Ende.“

Solche Versuche, die scharfen Gegensätze rückblickend abzumildern – um gemeinsame Identität für die Zukunft zu stiften –, wird der Kanzler in Polen nicht wiederholen. Für die Polen wäre es der Vergleich des Unvergleichbaren, die Vergangenheit ist noch lange nicht vergangen. Der Streit um ihre Interpretation kratzt inzwischen bedenklich am schönen Schein der Aussöhnungserfolge.

Die Aufregung in Polen um das Zentrum gegen Vertreibungen, das Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), in Berlin plant, und um die Aktivitäten der „Preußischen Treuhand“, die Entschädigungen für das verlorene Eigentum Vertriebener einklagen möchte, ist nicht das einzige dunkle Vorzeichen. Die angebliche Interessengemeinschaft konnte weder Polens Einspruch gegen die EU-Verfassung noch das Zerwürfnis um den Irak verhindern.

Und jetzt zerfallen in Polen auch noch die Parteien der erprobten Partner, mit denen die Deutschen die Annäherung herbeigeführt haben. Wie weit wird künftig Verlass sein auf die institutionellen Anker, die der jungen Nachbarschaft nach 1989 Halt gaben? Es spricht leider vieles für einen lang anhaltenden und grundsätzlichen Rückschlag, nicht nur für ein Zwischentief.

Immerhin zeigt die Intonierung der Kanzlerreise in den deutschen Medien – „überschattet von …“ –, dass der polnische Unmut über die vermutete Neuinterpretation der Geschichte bemerkt worden ist. Der Argwohn richtet sich nicht allein gegen Steinbachs Projekt. Er entzündet sich nur besonders heftig an ihrer Person. Die meisten Polen nehmen einer Frau, die dem als revanchistisch verrufenen BdV vorsteht und noch 1991 im Bundestag gegen die Anerkennung der Oder- Neiße- Grenze gestimmt hat, nicht ab, dass sie ein Zentrum für die Opfer aller Vertreibungen in Europa im 20. Jahrhundert anstrebt, von den Armeniern über Polen, Balten und Juden bis zu bosnischen Muslimen und Kosovo-Albanern. Sie halten die internationale Verpackung für einen Vorwand, um ein nationales Mahnmal für die deutschen Vertriebenen durchzusetzen.

Generell wächst die Furcht, dass die Deutschen dabei sind, sich von Tätern zu Opfern umzudefinieren. Was sonst, fragen viele Polen, bezwecken die populären neuen Bücher über deutsches Kriegsleid? Günter Grass über das versenkte Flüchtlingsschiff „Wilhelm Gustloff“, der Historiker Jörg Friedrich über die Opfer des Bombenkriegs.

Die Vergangenheit behält in der neuen Nachbarschaft ihr besonderes politisches Gewicht. Sie war immer auch ein moralischer Machtfaktor, ein Ausgleich für die Asymmetrie bei Finanzkraft und internationalem Einfluss. Seit Willy Brandts Kniefall hatte die Geschichte diese Dimension, bei den Sozial- und Kulturabkommen der 70er Jahre, bei den Umschuldungen polnischer Verbindlichkeiten bis hin zur besonderen deutschen Verantwortung, Polen den Weg in Nato und EU zu ebnen.

Kann das so bleiben? Für die Deutschen wächst der Abstand zum Weltkrieg, das moralische Argument verliert an Kraft, zumal die Politik meint, es so sehr verinnerlicht zu haben, dass sie sich nicht bei jedem aktuellen Streit damit bedrängen lassen will. Für Polen gerät damit ein gewohntes Beziehungsmuster aus der Balance. Polen waren die Opfer des Weltkriegs und der Teilung Europas – und später die Helden beim Sieg der Gewerkschaft Solidarnosc über den Kommunismus. Was Deutschland Polen an materiellen Verlusten und menschlichem Leid angetan hat, was es den Polen verdankt für die deutsche Einheit und Europas Integration, das wurde doch in den wenigen Jahren nach 1989 nicht annähernd wiedergutgemacht?

Die Jahre seit der Wende waren geprägt vom Bemühen um eine grundlegende Korrektur der Kriegsfolgen nach dem Vorbild der deutsch-französischen Aussöhnung. Die Friedensmesse in Kreisau, bei der Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki, der erste nichtkommunistische Regierungschef, sich umarmten – wie 1962 Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in der Kathedrale von Reims –, die Gründung eines Jugendwerks und der Nachbarschaftsvertrag: Die Annäherung im Osten folgte mit 30 Jahren Zeitverschiebung dem Drehbuch im Westen.

Die Freude am neuen Miteinander war stärker als die Last der Geschichte. Kurz bevor Kohl Polen im Juli 1995 zum zweiten Mal besuchte, hatte eine Razzia gegen Schwarzarbeiter in Frankfurt (Oder), bei der die Beamten mit Schäferhunden anrückten und die Arrestierten stundenlang in einer Halle festhielten, die Gemüter erhitzt; viele polnische Blätter spielten gezielt auf Bilder aus der Besatzungszeit an, manche titelten gar „Auschwitz an der Oder“. Kohl muss sich entschuldigen! Das tat er nicht. Als er aber im Sejm eine rührende Rede über die Aussöhnung hielt, mit den Tränen kämpfte und den EU-Beitritt im Jahr 2000 in Aussicht stellte, feierten ihn die Kommentatoren als „Helmut, der Große“ und „guter Nachbar Kohl“.

Ist das heute unter Schröder vorstellbar? Warum bleibt diese Beziehung so viel schwieriger als die mit Frankreich, warum spielt die Geschichte diese Rolle, immer noch, immer wieder, trotz all der Erfolge? Die historischen Belastungen sind ungleich größer, die Polen galten den Nazis als Untermenschen, dort standen die Vernichtungslager. 15 Jahre sind wohl zu kurz, um einen Umgang mit der Vergangenheit einzuüben, der die Erinnerung wach hält, ohne die Nachbarschaft zu erdrücken.

Es liegt auch an der gegenseitigen Wahrnehmung. Franzosen und Deutsche sind sich mitunter unbequem, aber sie akzeptieren einander als gleichwertig. Polen hat Unterlegenheitsängste, und die Deutschen geben ihnen immer wieder Nahrung. Wobei sich zwischen Sachlage und Überlegenheitsdünkel nicht so leicht trennen lässt. Deutschland ist ja ökonomisch stärker, hat eine effizientere Verwaltung und mehr Einfluss in der Welt.

Der gute Wille ist aber auch deshalb nicht mehr so sichtbar, weil er sein Ziel verloren hat. Die Großprojekte – mehr Grenzübergänge, Nato- und EU-Beitritt, der Aufbau enger Konsultationsmechanismen – sind verwirklicht. Formal sind Deutsche und Polen jetzt Partner. Nur: Womit füllen sie die Partnerschaft? Der Alltag hält keine Prestigeprojekte bereit, nur Sachstreit um EU-Mittel, unterschiedliche Positionen zu Amerika und Irak oder eben die schwierige Vergangenheit. Von Präsidenten- und Kanzlertreffen geht kein Glanz mehr aus, sie sind normal geworden. Historische Gesten wie Brandts Kniefall oder die Umarmung in Kreisau lassen sich nicht wiederholen.

Und nun kommen den deutschen Politikern die erprobten Ansprechpartner abhanden. Polen ist eine junge Demokratie, wegen des schnellen ökonomischen und sozialen Wandels ist das Parteiensystem in heftiger Bewegung. Auch große Regierungsparteien können nach einer Wahlniederlage einfach verschwinden, nicht nur kleinere Koalitionspartner. Vereinfacht gesagt, hatte es die Bundesrepublik nach 1989 mit zwei Lagern zu tun, die sich an der Macht abwechselten: einer Ex-Solidarnosc, in der nicht die Nationalisten, sondern die nach Westen offenen Konservativen und Liberalen den Ton angaben. Und den Ex-Sozialisten, die sich zu pragmatischen Sozialdemokraten gewendet hatten. Beide sind unter dem Druck des Regierens, fehlgeschlagener Reformen und mancher Affären zerfallen.

Das Wahlbündnis Solidarnosc (AWS) der bürgerlichen Rechten, das 1997 siegte, implodierte nach dem Machtverlust 2001. Die Linke hat sich vor wenigen Wochen nach einer langen Krise des Kabinetts Miller gespalten. Präsident Kwasniewskis zweite Amtszeit endet im Herbst 2005, er darf nicht wieder antreten. Parteipolitisch wird die SPD wohl auf Jahre hinaus keinen Partner von Gewicht haben. Die CDU ist etwas besser dran, weil ihre Partnerkrise bereits 2001 begann. Inzwischen hat sich die Bürgerplattform als Sammelbecken kooperationswilliger Nationalkonservativer und Nationalliberaler behauptet, sie dürfte die nächste Regierung bilden.

Erschreckend ist das Gewicht nationalpopulistischer Strömungen, die – bei wechselnder Stärke einzelner Gruppierungen – rund ein Drittel der Stimmen einfangen. Sie sind nicht an sich gefährlich, dafür sind ihre naiven Parolen zu leicht durchschaubar. Aber sie erschweren jede vernünftige Regierungsbildung. Und sie treiben mitunter die rationalen Rechten zu irrationalen Positionen wie dem Widerstand gegen die EU-Verfassung unter dem Motto „Nizza oder der Tod“.

Das alles ist Ausdruck einer nicht so rasch vorüberziehenden Identitätskrise der Gesellschaft und Stabilitätskrise des politischen Systems. Der nationale Impuls verlangt, dass Polen als einziges großes Land unter den EU-Neulingen eine Stellung auf Augenhöhe mit Frankreich, Großbritannien und Deutschland beansprucht. Aber parallel dazu wachsen die Zweifel, ob Polen diese Rolle ausfüllen kann.

Der Trend ist unverkennbar: Polen wird nationaler, klerikaler und europaskeptischer. Darauf deutet auch die wachsende Zahl von Medien hin, die ihr Geschäft mit antideutschen Ressentiments machen, wie das Springer-Boulevardblatt „Fakt“ oder das Posener Magazin „Wprost“, das vor Jahren als liberale Wirtschaftsillustrierte gestartet war, aber kürzlich eine Erika Steinbach, die in SS-Uniform den Kanzler reitet, auf den Titel hob.

Optimisten sagen, die Auslöser der Krise – der dynamische Wandel und die Suche nach Polens Rolle in Europa – seien zugleich die Lösung. In der EU werde Warschau lernen, dass Bockigkeit nichts bringt und man sich besser an gemeinsame Werte, Umgangsformen, Vorschriften hält; und die Wirtschaft werde eine enge Kooperation mit Deutschland erzwingen und die Politik lenken und zähmen – auch wenn das vielleicht Jahre dauere.

Die Nachbarschaftseuphorie ist vorbei. Wird Kanzler Schröder das heute zu spüren bekommen? Warschaus nationalkonservativer Bürgermeister Kaczynski hat Bundespräsident Köhler beim Spaziergang durch die Altstadt beiläufig erläutert: Für den Fall, dass Deutschland die Entschädigungswünsche der Vertriebenen nicht unterbinde oder selbst abgelte, bereite er schon mal eine Reparationsforderung vor – für die Schäden der Zerstörung Warschaus vor 60 Jahren.

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