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Politik: Afghanistan übt Demokratie

182 Artikel sieht der Verfassungsentwurf vor. Die Scharia spielt darin keine große Rolle. Dennoch bleibt islamisches Recht bestimmend

Von Elke Windisch

und Ulrike Scheffer

Gut elf Monate lang haben die 35 Mitglieder des afghanischen Verfassungsausschusses gestritten, heftig. Immerhin ging es ja um ein neues Grundgesetz für das Land. Man habe, so verkündete ein Mitglied des Gremiums stolz, dabei die „Quadratur des Kreises" versucht – und sei diesem Ziel sehr nahe gekommen. In den nächsten Tagen will Präsident Hamid Karsai die 182 kurzen Artikel der Öffentlichkeit vorstellen. Doch schon jetzt gibt es Kritik. Und Warnungen, dass die neue Verfassung neue Konflikte quasi in sich trägt.

Kein Wunder. Die unterschiedlichen Interessen von muslimischen Fundamentalisten, die in der Gesellschaft und im Verfassungsausschuss die Mehrheit haben, und Reformern, die als Minderheit für eine Demokratie mit westlichem Zuschnitt eintreten, spiegeln sich in den Artikeln wider: ein Mix aus islamischen und säkularen Werten, Gewohnheitsrecht und internationalen Rechtsnormen. Und die Scharia – die Sammlung islamischer Gesetze – soll nicht automatisch geltendes Recht werden. Vorrang sollen Einheit, Sicherheit, Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten haben – wenn all das nicht mit dem Islam kollidiert. „Das islamische Recht hat in Afghanistan immer eine Rolle gespielt. So wie in anderen islamischen Ländern auch“, sagt etwa der afghanische Minister für Wiederaufbau, Amin Farhang, im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Wie eng der Spielraum ist, zeigte sich letzte Woche. In Kandahar, der einstigen Taliban-Hochburg, wurden einige Teilnehmerinnen einer Konferenz kurzzeitig verhaftet. Sie hatten Kernforderungen afghanischer Frauenorganisationen in einem alternativen Verfassungsentwurf gebündelt: strafrechtliche Verfolgung von Gewalt in der Ehe und sexuellem Missbrauch, Pflichtabschluss der Mittelschule auch für Mädchen, Recht auf freie Meinungsäußerung und Gleichstellung bei der Regelung von Vermögens- und Erbschaftsansprüchen. Alles Forderungen, die ein Bürgerliches Gesetzbuch und ein Familienkodex (beide Anfang der Siebziger verabschiedet) bereits erfüllen. Der offizielle Entwurf dagegen bleibt zu Frauenrechten wie zur politischen Gewaltenteilung vage und weit hinter der Verfassung von 1964 zurück.

Die meisten der rund 27 Millionen Afghanen werden ohnehin wohl erst im Dezember erfahren, dass ihr Land eine neue Verfassung bekommen hat. Wenn überhaupt. Dann soll eine Loya Dschirga, die Ratsversammlung der afghanischen Stämme, über den Verfassungsentwurf der Regierungskommission beraten. „Jetzt haben die Afghanen zwei Monate mehr Zeit, den Entwurf zu diskutieren“, sagt der europäische Gesandte in Kabul, Francesc Vendrell. Regierungsdelegationen, Nichtregierungsorganisationen und die Medien sollen in den kommenden Wochen die Bevölkerung über die Inhalte informieren und Anregungen der Bürger aufnehmen. So weit die Theorie. Tatsächlich dürfte es kaum zu einer offenen Debatte kommen. Einige Provinzgouverneure halten nicht viel von solchen Demokratieübungen.

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