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Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki will mit einer diplomatischen Note an die Bundesregierung wegen der Reparationsforderungen herantreten.

© Reuters/Kacper Pempel

Warschau fordert Reparationen: So begründet Polen die Ansprüche gegen Deutschland

Die nationalkonservative Regierung in Warschau lässt an ihren Reparationsansprüchen keinen Zweifel. Die Billionen-Forderung hat allerdings auch innenpolitische Gründe.

Kaum sind die Flüchtlinge da, sind sie auch schon wieder weg. Nach diesem Prinzip verläuft die Registrierung am Warschauer Ostbahnhof. Dort steht ein Zelt, das den Flüchtlingen aus der Ukraine als erster Anlaufpunkt in der polnischen Hauptstadt dient. Gerade ist eine 15-Jährige mit ihrer Mutter und den beiden Großeltern per Zug aus Kiew angekommen. „Wir bleiben zwei Tage in dieser Stadt, danach geht es nach Schottland weiter“, sagt sie.

Ein paar Meter weiter steht Stanislaw Ajewski und schildert, wie bravourös Polen unmittelbar nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine mit den Flüchtlingen umgegangen ist. „Fast 4000 Menschen pro Woche kamen damals hier an“, erinnert er sich. Mittlerweile werden jede Woche nur noch 400 Menschen registriert. Aber Ajewski hält es für sehr wahrscheinlich, dass die Zahlen demnächst wieder nach oben gehen.

Denn der kommende Winter bedeutet zweierlei: Im Transit-Zelt am Warschauer Ostbahnhof stellen die nächtlichen Außentemperaturen von sechs Grad dank der Heizung kein Problem dar. Aber in Mariupol, das von russischen Truppen besetzt ist, kann ein Winter ohne Heizung zu einer tödlichen Gefahr werden. Deshalb kommen derzeit die meisten Menschen aus der Ukraine, die in Warschau stranden, entweder aus der Stadt am Schwarzen Meer oder aus dem Osten der Ukraine.

Flucht aus der Ukraine. Zahlreiche Menschen steigen am Bahnhof von Przemysl in der Nähe der ukrainisch-polnischen Grenze aus dem Zug aus Kiew.

© dpa/Kay Nietfeld

Stanislaw Ajewski arbeitet für die polnische Ärztegruppe PCPM, die zu jenen Organisationen gehört, die den Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine geholfen haben. Die Hauptlast bei der Unterbringung der Menschen tragen indes seit Anfang des Krieges polnische Privathaushalte. Allerdings wird es angesichts der steigenden Preise derzeit vor allem in Warschau für viele Durchschnitts-Polen immer schwerer, selbst an eine bezahlbare Wohnung zu kommen. „Die Preise sind maßlos, und das wird noch auf Jahre hinaus ein Problem bleiben“, sagt Ajewski.

Dennoch gehört es jetzt gewissermaßen zur polnischen Staatsräson, dass die Hilfe für die Flüchtlinge aus der Ukraine wohl auch im kommenden Winter fortgesetzt wird. Eine Befragung des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien zeigte jüngst, dass gerade unter jungen Polen die Aufnahmebereitschaft weiter hoch ist.

Während also die Solidarität mit der Ukraine in Polen ungebrochen scheint, muss die nationalkonservative Regierung unter Führung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) aufpassen, dass sie nicht den Rückhalt der Bevölkerung verliert. Das liegt an den Eigenheiten der polnischen Energiepolitik: 3,8 Millionen Haushalte in Polen heizen weiterhin mit Kohle. Der Rohstoff ist aber knapp geworden, seit die Regierung einen Importbann für russische Kohle verhängte, noch bevor die EU sich dazu entschloss. Importe aus Südafrika, Kolumbien und Indonesien sollen nun die Lücke schließen.

In den ärmsten Haushalten droht ein böses Erwachen

Trotz der hektisch organisierten Einfuhren droht demnächst in den ärmsten Haushalten, in denen weiterhin Kohleöfen stehen, ein böses Erwachen. Weil die billige russische Kohle fehlt, müssen die betroffenen Familien mit einer Verdoppelung und sogar einer Verdreifachung der Preise rechnen. Die Regierung hat Ausgleichszahlungen angekündigt, und auch Adam Guibourge-Czetwertynski, Staatssekretär im Klimaministerium, versichert: „Wir können die Menschen nicht ohne Heizung dastehen lassen.“

Nach seinen Worten ist Polen gut gerüstet, um den kommenden Winter durchzustehen. Das Land, das anders als Deutschland schon frühzeitig nach Alternativen zum russischen Gas gesucht hat, baute LNG-Terminals und erschloss neue Quellen in den USA und Katar. Aber was ist mit der Kohle, die im vergangenen Jahr bei der Stromerzeugung immerhin noch einen Anteil von 70 Prozent ausmachte? Guibourge-Czetwertynski verweist auf den Plan, dass bis 2030 mindestens ein Drittel der Stromversorgung aus erneuerbaren Energien gespeist werden sollen. Dies ist allerdings ein Ziel in mittelferner Zukunft.

Das weltgrößte Braunkohlekraftwerk steht im polnischen Belchatow.

© Reuters/Kacper Pempel

Während die PiS-Regierung sogar davon ausgeht, dass es im Winter in Polen einen Überschuss an Energie gibt, stoßen derart optimistische Prognosen abseits der Zentrale in Warschau auf Skepsis. „Es wird auf nationaler Ebene viel Propaganda verbreitet“, sagt etwa Patryk Bialas. „Es gibt aber Statistiken von Bergbaugenossenschaften, die darauf hindeuten, dass im Winter vier bis fünf Millionen Tonnen Steinkohle fehlen werden.“

Bialas‘ Familienbiographie ist eng mit der Kohle verknüpft. Sein Großvater war Steiger, sein Vater betreute den Verkauf des fossilen Energieträgers. Bialas selbst arbeitet heute daran, dass die Region Kattowitz im Süden des Landes den endgültigen Abschied von der Kohle wirklich hinbekommt. Sein Ziel besteht darin, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien trotz der zögerlichen Haltung in Warschau nicht unter die Räder kommt. Im Wissenschafts- und Technologiepark Euro-Centrum, das die EU seit 2005 mit rund 35 Millionen Euro gefördert hat, ist er an der Energiewende beteiligt. Und im Stadtrat hat sich der Parteilose „auf die Seite der grünen Energie“ geschlagen, wie er sagt.

Ich habe mich auf die Seite der grünen Energie geschlagen

Patryk Bialas, Stadtrat von Kattowitz

Das ehemals große Kohlerevier von Kattowitz, wo die Zahl der in der Kohle- und Stahlindustrie Beschäftigten in den letzten 30 Jahren von 300.000 auf 70.000 gesunken ist, hat den Strukturwandel recht gut hinbekommen. Zwar strahlt die Stadt im Kulturbereich immer noch nicht so hell wie das benachbarte Krakau. Aber eine niedrige Arbeitslosenquote von 1,6 Prozent dient den Verantwortlichen im Stadtrat als Beleg dafür, dass sie in den vergangenen Jahren nicht allzu viel falsch gemacht haben.

Wie überall in Polen gibt es allerdings auch in Kattowitz gegenwärtig vor allem ein Thema, das die Menschen umtreibt: die hohe Inflation. Im August betrug die Quote 16 Prozent. Das bekommen Menschen wie Kinga Piatek direkt zu spüren. Die junge Frau, die mit ihrem Kinderwagen am Wolnosci-Platz im Zentrum von Kattowitz unterwegs ist, erzählt, dass sie und ihr Mann vor vier Jahren noch 100 Zloty (21 Euro) pro Woche für Einkäufe im Supermarkt ausgegeben hätten. Inzwischen seien es 400 Zloty (84 Euro), was trotz der mittlerweile hinzugekommen Ausgaben für Windeln und Babybrei eine enorme Preissteigerung darstelle. Zudem haben sie und ihr Mann große Sorge, dass die Inflation ihr Sparvermögen auffressen könnte. „Das macht uns Angst“, sagt die 25-Jährige.

Die Inflation droht die Sparvermögen vieler Polen zu dezimieren.

© Kitty Kleist-Heinrich TSP

Falls die Inflation Kleinvermögen wie die von Kinga Piatek und ihrer Familie flächendeckend zunichte machen sollte, kann sich die PiS die Chancen auf eine Wiederwahl im kommenden Jahr abschminken. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki weiß, dass breite Wählerschichten sich gegen ihn und seine Partei richten könnten, falls sich in den kommenden Monaten die galoppierende Inflation und die steigenden Heizkosten für die Besitzer von Kohleöfen zu einem gefährlichen Mix verbinden sollten.

Ein Jahr vor der Parlamentswahl hat die PiS deshalb ein Ablenkungsmanöver gestartet, das nicht neu ist, aber zum Standardrepertoire der Partei gehört: Ressentiments gegen das angeblich übermächtige Deutschland schüren. Eine Parlamentskommission in Warschau hatte am Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf Polen Anfang des Monats ein Gutachten vorgelegt, in dem die von den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg angerichteten Schäden in Polen auf mehr als 1,3 Billionen Euro beziffert werden. Gleichzeitig hatte der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski die Forderung nach deutschen Reparationszahlungen erneuert.

Wir haben enorme Verluste bei der Bevölkerung erlitten

Ein hoher Regierungsvertreter in Warschau

„Wir haben enorme Verluste bei der Bevölkerung, der Infrastruktur, der Industrie und des Kulturlebens während des Krieges erlitten“, bekräftigt ein hoher Regierungsvertreter in Warschau die Reparationsforderungen. Die Nazi-Gräuel hätten den Verlust einer ganzen Generation von Ingenieuren, Wissenschaftlern und Künstlern zur Folge gehabt, sagt er weiter.

Auch wenn die Bundesregierung die Forderungen angesichts des Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1990 über die außenpolitischen Folgen der deutschen Einheit ablehnt, lässt der Regierungsvertreter keinen Zweifel daran, dass man demnächst mit einer diplomatischen Note an die Regierung in Berlin herantreten werde. Es gehe nicht darum, die „Büchse der Pandora“ zu öffnen, sondern im Gegenteil wolle man zu einer „langfristigen Versöhnung und einer Beendigung sämtlicher Spannungen zwischen Polen und Deutschland“ kommen.

In deutsch-polnischen Wirtschaftskreisen stößt eine solche Einschätzung des Verhältnisses zwischen den beiden Nachbarn auf Befremden. In Kattowitz, 300 Kilometer von der Grenze zu Deutschland entfernt, gehört die Zusammenarbeit mit Firmen aus dem Nachbarland seit Jahrzehnten zum Alltag. Marcin Baron von der Wirtschaftsuniversität Kattowitz erinnert daran, dass kein Land mehr Exporte aus Polen aufnimmt als Deutschland. Was die Regierungen in Warschau und Berlin machen, sei eine Sache, lautet seine Analyse. „Aber aus der Perspektive von Oberschlesien mache ich mir um das deutsch-polnische Verhältnis überhaupt keine Sorgen.“

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