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Wirtschaft: Rolf Herboth

Geb. 1939

„Na? Was habt ihr gesehen? Nüscht habt ihr gesehen! Ich weiß es besser!“ Es lebe der Unterschied! Ach ja?

Es waren zwei Brüder, „stramme Jungs“, beide erkrankten an Kinderlähmung. Der eine wurde gesund, der andere blieb verkrüppelt. Kaum Kraft in den Armen, ein steifes Bein, künstlich versteift. Damals wurden „Sorgenkinder“ durch die Hölle geschickt, von den Ärzten und zuweilen auch von den Eltern, die sich schämten; als wäre es ihre Schuld, oder die des Kindes.

Nach dem Abitur gingen beide Brüder nach Berlin. Der eine studierte an der TU, der andere an der FU. Morgens brachte der Bruder Rolf in seinem kleinen Fiat 500 zur Uni, abends holte er ihn wieder ab.

Rolf Herboth war behindert, aber nie auf den Mund gefallen. Wortführer auf Partys wie in der liberalen Hochschulgruppe. Und auf allen Reisen dabei, auch bei der ersten politischen Delegation, die nach dem Mauerbau nach Moskau geladen wurde. 40 Stunden Bahnfahrt. Ein Hotel, dessen Lift nur nach Laune funktionierte. Das Zimmer im siebten Stock. Rolf wurde auf Händen getragen. Das störte niemanden. Und er selbst ließ es sich nicht anmerken.

In einer fremden Stadt? „Stellt mich in einer Kneipe ab!“ Dann ließ er sich von den einheimischen Tresenstehern erzählen, was es zu wissen gab, und wenn die anderen zurückkamen fragte er: „Na? Was habt ihr gesehen? Nüscht habt ihr gesehen! Ich weiß es besser!“

Seine beste Zeit vielleicht, die Studienzeit. Er machte gegen Gott und die Welt mobil: gegen die schlagenden Verbindungen, gegen Diepgen, gegen die Wiederwahl von Lübke. Da stand er vor der Gedächtniskirche mit dem Plakat: „Wählt doch gleich die Wilhelmine, ist doch auch ’ne dufte Biene.“ Woraufhin die Polizei bei Heinrich Lübke anfragte, ob er diese Parole als Beleidigung des Staatsoberhauptes empfinde. Lübke ließ wissen: „Nein, keine Beleidigung.“

Sonst wäre die Karriere im öffentlichen Dienst wohl nicht zustande gekommen: Rolf Herboth wurde Amtsrichter in Neukölln. Sein Grundsatz war einfach und kräfteschonend für alle: „Vertragt euch, vergleicht euch!“

Einige Taxifahrer waren auf ihn trainiert, begleiteten ihn aus der Wohnung, brachten ihn in den Sitzungssaal, holten ihn ab. Kräftezehrend das alles, doch kritisch wurde es erst, als er mehr Urteile sprechen musste, weil die Leute immer streitsüchtiger wurden. Und jedes Urteil erfordert einen schriftlichen Beschluss, da kam er nicht mehr hinterher. Er ließ sich frühpensionieren und fiel in eines dieser Wellentäler, die immer wiederkehrten.

Er ging nicht mehr ans Telefon. Ließ keinen in die Wohnung. Der einzige Kontakt: der Pizzaservice. Briefe blieben unbeantwortet, Rechnungen unbezahlt. Mit Ausnahme des Telefons. Des Pizzaservices wegen.

Und von einem Tag auf den anderen war er dann wieder da. Ließ die deckenhoch gestapelten Kartons entsorgen und warf sich ins Leben. Er hatte viele Freunde, die er wie kein anderer bei Laune halten konnte, gern auch mit Arbeiterliedern: „Roter Wedding“, „Auf, auf zum Kampf“.

Er konnte unterhalten, und er konnte flirten. Nie wieder hat sein Gesicht so gestrahlt wie bei der Geburt seines Sohnes: eine ganz normale Familie. Er hatte den Stein mal wieder ganz nach oben gerollt, fast bist auf den Gipfel, und wieder ging es bergab. Denn der Hang zur Schwermut blieb. Die Ehe ging auseinander.

Er lebte wieder sein eigenes Leben.

Nahm wieder Anlauf. Bezog in Pankow eine behindertengerechte Wohnung, verdiente am neuen Markt viel Geld, konnte sich einen elektrischen Komfortrollstuhl kaufen, mit dem er durch die Stadt fuhr, kreuz und quer. Und als es ihm in Berlin zu eng wurde, fuhr er nach Australien.

Er hat sich alle Wünsche erfüllt.

Der sechzigste Geburtstag: ein Riesenfest. Da stand der Bruder, ein Hüne. Rolf neben ihm im Rollstuhl, der einige Extras hatte: Mit einem Knopfdruck ließ Rolf Herboth die Teleskopbeine ausfahren und war auf Augenhöhe.

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