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Familiäre kulturelle Gründe sind häufig ein Grund, warum Kinder den Notdienst nutzen.

© picture alliance / Oliver Berg/d

Berliner Notdienst: 17-jährige Muslima flieht vor ihrem Bruder

„Ich werde Dich umbringen“: Eine junge Frau bittet die Polizei nach Todesdrohungen um Begleitung zum Notdienst. Die Rettungsstelle in Berlin hat immer mehr Arbeit.

Leyla M. (Name geändert) hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, ihr letzter Fluchtweg in der Wohnung. Denn vor der Tür stand ihr Bruder Ahmed*, außer sich vor Wut. „Ich werde Dich umbringen, weil du aussiehst, wie du aussiehst“, brüllte er. Seine Schwester sah aus wie jede 17-Jährige, die sich stark schminkt. Nur: Leyla M. ist Muslima. In die Zimmertür war eine Glasscheibe eingefasst, die Ahmed M. bereits zertreten hatte, als die alarmierte Polizei auftauchte.

Die Beamten stellten das zerbrochene Glas fest, sie registrierten, dass sich Leyla M. an den Glasresten leicht verletzt hatte. Ahmed M. soll sich durch das Make up seiner Schwester stark provoziert gefühlt haben. Er soll auch ein Messer in der Hand gehabt haben, so steht es im internen Polizeibericht über den Einsatz am Abend des 5. Mai in einem Haus in Lichtenrade.

Der Bruder ein Schwellentäter

Ahmed M. wird in dem Bericht als „Schwellentäter“ bezeichnet, ein polizei-interner Begriff für Kriminelle, die an der Schwelle zum Intensivtäter stehen. „Bereits in der Vergangenheit kam es innerhalb der Familie zu ähnlich gelagerten Straftaten“, heißt es in dem Bericht.

Leyla M. jedenfalls hatte nur einen dringlichen Wunsch an die Polizisten: Sie wollte zum Jugendnotdienst. Für sie war das die letzte Fluchtmöglichkeit außerhalb ihrer vier Wände. Sie hätte sich, theoretisch, auch in die Wohnung ihrer Schwester retten können. Doch diesen Weg hatte Ahmed M. ihrer Aussage nach abgeschnitten, auf drastische Weise. Ahmed habe ihr erklärt, „wenn sie zu ihrer Schwester gehen würde, würde er sie beide umbringen“.

So protokollierten es die Beamten. Die Polizei führt den Vorfall unter „Gewalt im Namen der Ehre“. Der Bericht endet mit dem Satz: Nach Verlassen der Wohnung sei die Betroffene „dem Jugendnotdienst zugeführt“ worden. „Eine Gefährderansprache“ – gegenüber Ahmed M. – „wurde veranlasst.“

Berliner Notdienst als letzte Fluchtmöglichkeit

Alltag in Berlin, letzte Fluchtmöglichkeit Berliner Notdienst. Ein Rettungsanker, wenn die körperliche oder seelische Not von Kindern und Jugendlichen extrem groß ist.

3216 Kinder und Jugendliche sind 2016 vom Berliner Notdienst aufgenommen worden, genau gesagt: 867 Kinder und 2349 Jugendliche. Ein Jahr zuvor lag die Gesamtzahl noch bei 3019. Zum Vergleich: 2012 registrierte die Einrichtung nur 2546 Fälle. Aktuellere Zahlen als die von 2016 gibt es noch nicht.

Der Berliner Notdienst hilft umfassend. Zu seinen Angeboten gehören die Hotline Kinderschutz, der Kindernotdienst, der Jugendnotdienst sowie der Mädchennotdienst. Außerdem die Kontakt- und Beratungsstelle für Straßenjugendliche sowie das „Sleep In“, eine Notübernachtung für obdachlose Jugendliche und junge Erwachsene.

Eigentlich, sagt Carola Pinnow, Leiterin des Berliner Notdienstes, „sind wir zuständig, wenn die Jugendämter nicht besetzt sind, also nach 18 Uhr in der Woche oder am Wochenende.“ Dann würden die Betroffenen zeitnah den zuständigen Behörden übergeben.

Anonymes Unterkommen

Aber mitunter ist es auch nötig, dass die Schutzsuchenden länger in der Obhut des Notdienstes bleiben müssten. Der verfügt in der Stadt über Plätze, in denen Kinder und Jugendliche erst mal anonym unterkommen können, weil sie vor Angehörigen oder anderen Personen geschützt werden müssen. 2016 protokollierte der Notdienst 2815 Belegungstage (2015: 2031). Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag bei 3,25 Tagen (2015: 2,6).

Die meisten Kinder und Jugendlichen landeten 2016 aus dem Bezirk Mitte beim Notdienst (265), dahinter folgen Friedrichshain-Kreuzberg (200) und Pankow (130). Die Gründe für den Einsatz der staatlichen Helfer sind unterschiedlich. 2016 war der häufigste Anlass dafür, dass Betroffene speziell zum Kinderbereich des Notdienstes gebracht wurden, dass die Eltern ihre Aufsichtspflicht komplett vernachlässigt hatten (218 Fälle). 125 Mal gab es Verdacht auf körperliche Misshandlung, in 27 Fällen auf psychische Misshandlung und in sieben Fällen Hinweise auf sexuelle Misshandlung. 43 Mal wurde der Notdienst wegen drogensüchtiger Eltern eingeschaltet.

Fallzahlen schnellen nach oben

Auch bei der Hotline-Kinderschutz schnellten die Fallzahlen nach oben. Von 1547 im Jahr 2012 auf 2204 im Jahr 2016. Hinter diesen Zahlen verbergen sich triste bis dramatische Lebensumstände der Eltern. Die fühlten sich mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert (243 Fälle im Jahr 2016) oder ein Elternteil war psychisch erkrankt oder hatte andere Probleme (179). Es gab auch Wohnungsprobleme (90), oder eine Überschuldung belastete den Alltag (54).

Beim Jugend- bzw. Mädchen-Notdienst war 2016 der Verdacht auf körperliche Misshandlung in 370 Fällen der Grund, warum Betroffene in die Rettungsstelle kamen. Der häufigste Anlass aber waren überforderte Eltern (959). 237 Mal bestand der Verdacht auf psychische Misshandlung, 370 Mal auf körperliche Misshandlung, und 53 Mal gab es Hinweise auf sexuellen Missbrauch.

Bis Ende 2017 hatte Friedrichshain-Kreuzberg stellvertretend für alle Bezirke die Arbeit des Notdienstes administrativ organisiert. Aus verschiedenen Gründen war das keine optimale Lösung. Damit die Arbeit effektiver ablaufen kann, wurde die Einrichtung – ebenso wie die Zentrale Jugendgerichtshilfe, die Mitte für alle Bezirke betreut hatte – in die Zuständigkeit des Landes verlagert. Seit 1. Januar 2108 sind beide Einrichtungen an die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gebunden. Die zuständige Senatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte erklärt: „Es hat sich gezeigt, dass eine übergeordnete, gesamtstädtische Steuerung nötig ist.“ Die zuständigen Bezirke kämen „aufgrund der steigenden Fallzahlen und der Notwendigkeit, bezirksübergreifende Strategien und Angebote zu entwickeln, an ihre Grenzen.“

In Lichtenrade verließ Leyla M. mit den Beamten die Wohnung Richtung Notdienst. Ihre Mutter freilich hatte noch eine Botschaft an ihre Tochter: „Du bist eine Muslimin. Wir leben nicht wie die Deutschen.“

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