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Berlin: Der „Anker“ ist gelichtet

Die ehemalige Seemanns-Kneipe am Charlottenburger Ufer wurde 100 – und strahlt in neuem Glanz

Wer zählt die Schnapsdrosseln und Schluckspechte, die je an diesem Tresen vom Hocker gekippt sind? Wie viele Fässer Bier mögen über diese Planken gerollt sein? Das Seemannsgarn, das an diesen Tischen versponnen wurde, reicht mindestens zwölfmal um den Äquator.

Das Lokal hat schon viele Wirte gesehen. Dieter Nowak war „Anker“-Wirt von 1961 bis 1963. Damals benutzten die Kohlenschiffer die Kneipe am Charlottenburger Ufer als Wohnstube, erzählt Nowak. Morgens frühstückten sie Bulette und Soleier, bewässerten die Mahlzeit mit Bier und Schnaps und tranken sich so durch den Tag, bis sie um 1 Uhr nachts rausgeschmissen wurden. Wer über der Kneipe wohnte, setzte sich gleich in Filzlatschen an den Tresen. Der Anker war eine typische „Alt-Berliner Eckkneipe“, meint Nowak. Andere sagen: „eine Kiezspelunke“. Bis vor zwei Jahren. Dann übernahm Michael Funk den Laden, renovierte alles und machte aus der dunklen Anker-Höhle ein „anständiges Lokal“ – rechtzeitig zum 100. Geburtstag. Der wurde dieser Tage denn auch ausgiebig begangen.

Der Anker verdankt seinen Namen dem Ankerplatz für Lastkähne, der sich direkt gegenüber an der Spree befand. Vor allem Kohlenschiffer aus dem Rheinland machten hier fest. „Die sind wegen der Subventionen nach Berlin gekommen“, erinnert sich Nowak. Einige überwinterten auch hier. Nach dem Krieg hätten Schiffer aus Polen hier Station gemacht und allerhand Schmuggelware wie Wodka und Zigaretten verkauft, erzählt Funk. Heute machen vor allem Ausflugsschiffe am benachbarten Anleger fest, beladen mit durstigen Berlin-Touristen.

Im Anker finden sich die üblichen seemännischen Ornamente – zur Würdigung der Tradition und des Namens. Weil aber keine Seeleute mehr einkehren, sondern Rechtsanwälte, Professoren und Architekten, hängen auch Bilder zeitgenössischer Künstler an den Wänden, und am Wochenende gibt es Live-Musik. Stammgast Axel Schröder trinkt Apfelschorle und lobt die ruhige familiäre Atmosphäre der Kneipe. Unter der Ägide des vorigen Besitzers habe er mal am Tresen gearbeitet. Da wurde viel gewürfelt und solange „auf Deckel“ getrunken, bis die Wirtsleute pleite waren. Eine richtige Trinkerkneipe sei der Anker gewesen, mit gelegentlichen Prügeleinlagen – das sei vorbei, Gott sei Dank.

Wirt Funk, gebürtiger Rheinländer, 42 Lenze alt, ist so gar keiner fürs Prügeln. Er hat dieses freundlich-unschuldige Tommi-Ohrner-Lächeln und möchte einfach, dass sich seine Gäste wohlfühlen. Lange Zeit hat er in den USA und in Griechenland gelebt und zuletzt als Flugzeug-Tankwart in Tegel gearbeitet. Die Kneipe übernahm er, weil sein Job nicht mehr sicher war und seine Freundin nur ein paar Häuser entfernt wohnt. 25 000 Euro und viel Arbeit habe er in die Renovierung gesteckt. Weine hat er auf Lager und natürlich Kölsch am Hahn. Zunehmend würden sich auch Frauen in den Anker trauen, sagt Bärbel Noack, die auf dem Biedermeier-Sofa ihren Sekt auf Eis genießt. Sogar Lehrerinnen verkehren hier. Samstags gibt es immer Kuchen, selbst gebacken von Stammgast Oskar. Bienenstich, Nusskuchen, Weihnachtsplätzchen hat Oskar schon mitgebracht. Sehr brav und kultiviert geht es zu im Anker. Was war, ist längst vergessen. Niemand führt in einer Kneipe Protokoll. Und angeschrieben wird nicht mehr.

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