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Anneliese ten Hövel-Jones

© privat

Nachruf auf Anneliese ten Hövel-Jones: „Du lachst wie ein altes Sofa!“

Natürlich verdrehten die Schüler die Augen, wenn ihnen die Lehrerin leicht verrückt erschien. Immer wieder fand sie Gründe, das Klassenzimmer zu verlassen

Anneliese war 66, als sie jemanden Neues kennenlernen wollte. Sie trat einem Club für gemeinsame Aktivitäten bei, Wandern, Ausflüge, Konzerte. Und tatsächlich gab es da einen interessanten Kandidaten, mit dem sie sich zu einer Motorradausfahrt verabredete. Sie kaufte sich eine Lederjacke, Lederhose und einen Helm. Dazu trug sie roten Lippenstift auf, der war ihr Markenzeichen, auf jedem Glas hinterließ sie ihren Abdruck. Die Haare lockig frisiert, die Wimpern getuscht, die Augenbrauen nachgezogen, Ohrringe. Wie immer fesch und adrett.

Nur der Mann mit seinem Motorrad gefiel ihr dann doch nicht. Lederjacke und Helm verkaufte sie wieder. Dann lieber um die Enkel kümmern, mit der Walking-Gruppe auf den Teufelsberg, Nachhilfe geben und in der Kirchengemeinde meditativen Tanzunterricht. Dafür hatte sie einen Kurs absolviert, an einer Wand in ihrer Wohnung hing das Zertifikat, eins von vielen: NLP, Mediation, Walddorfpädagogik, Religionspädagogik.

Anneliese war das zweite von sechs Kindern. Der Vater war 35, als er aus dem Krieg wiederkam, arbeitete als Rechtsanwalt, gründete die Familie, engagierte sich in der CDU, wollte sogar Bürgermeister werden. Die Mutter war knapp 19 und wollte studieren. Stattdessen die Familie. Sie buk, kochte, wechselte Windeln, überwachte Hausaufgaben, nähte die Kleider, damit die Familie in der Kirche etwas hermachte, hier in Wiesbaden, wo sie lebten.

Die sechs Kinder, die Eltern, Oma, Uropa, alle wohnten unter einem Dach. Da spielte niemand eine Sonderrolle, die Zimmer wurden geteilt, in den großen Wanderurlaub ging es alle zwei Jahre.

Auch ohne Mann

Anneliese war wild und frech. Sie kletterte über Zäune in die großen Nachbargärten, klaute Birnen und Äpfel. Opa Willi, der immer Ananasbonbons aus seiner Hosentasche zauberte, krachte auf seinem Gartenstuhl zusammen, und Anneliese lachte und konnte gar nicht mehr aufhören. Da sagte ihr Vater: „Anneliese, du lachst wie ein altes Sofa.“ So tief aus der Seele kam ihr Lachen, das kein Halten kannte. „Da konnte man nicht anders, man musste automatisch mitlachen“, sagt Annelieses Tochter.

Unbedingt, so schärfte die Mutter ihren Mädchen ein, sollten sie etwas aus sich machen. Studieren, einen Beruf ergreifen, der sie absichern würde, auch ohne Mann. Anneliese wurde Lehrerin für Englisch und Biologie.

Ihr Ziel war nicht das Gymnasium, Anneliese wollte an die Schulen mit den schwierigen Kindern in den schwierigen Vierteln. Bekam sie eine neue Klasse, besuchte sie alle Schüler zu Hause, unterhielt sich mit den Eltern, wollte wissen, was da ablief. Vor Klassenarbeiten gab es immer eine Probearbeit.

Und immer wieder fand sie Gründe, das Klassenzimmer zu verlassen. Quallen fangen in den Teichen. Gemeinsam ein Restaurant besuchen, damit die Schüler erfuhren, was ein französisches Frühstück ist. Trommeln, um ein Rhythmusgefühl zu erzeugen. Wurde die Klasse unruhig, holte sie ihre Gitarre raus, und es wurde erst einmal gesungen. Natürlich verdrehten die Schüler die Augen, wenn ihnen die Lehrerin leicht verrückt erschien, aber sie fühlten, dass sie sie ernst nahm, dass ihr etwas an ihnen lag. Sie kaufte Farbe und strich mit ihnen das Klassenzimmer, sie studierte Theaterstücke ein, nur Fußball spielte sie nie mit ihnen.

Eine ihrer Schülerinnen hatte es schwer, die Mutter war allein und konnte sich nicht um ihre Kinder kümmern. Das Jugendamt wollte sie in ein Heim geben. Da schlug Anneliese vor, dass sie sich um das 13-jährige Mädchen kümmern würde. Gern, erwiderte das Jugendamt, und wäre es noch möglich, die 11-jährige Schwester dazuzunehmen? Na selbstverständlich!

Streit um unsinnige Kleinigkeiten

27 war Anneliese, als auf einmal zwei pubertierende Mädchen bei ihr wohnten. Was sie häufiger an den Rand ihrer Kräfte brachte. Fünf Jahre lebten die beiden Mädchen bei ihr; die Beziehung zu ihrem damaligen Freund blieb auf der Strecke.

Doch dann kam Christopher mit den lockigen schwarzen Haaren und den schönen Augen. Anneliese war verliebt, schnell wurde sie schwanger. Im schwarzen Kleid, mit dickem Babybauch stand sie vorm Altar. Ihre Tochter kam 1981 auf die Welt.

Er war 30 und stand am Anfang seines Theologiestudiums. Sie wollte schnell wieder arbeiten, Geld verdienen und die Familie ernähren. Also passte die Großmutter auf, erst auf die Tochter, dann auch auf den Sohn. 

25 Jahre hielt die Ehe. Mal war alles gut, dann reisten sie alle zusammen zu den großen Jugendtreffen nach Taizé, oder sie spielten zusammen in einer Band und gaben Hauskonzerte. Dann wieder konnten sie sich so sehr streiten um - wie die Kinder fanden - unsinnige Kleinigkeiten, dass das Zusammenleben auf dem Spiel stand. Kurz vor ihrer Pension, nachdem sie so lange durchgehalten hatten und alle hofften, dass sie nun endlich die Zeit miteinander genießen würden, trennten sie sich.

Nach 40 Jahren Schuldienst war auch Schluss mit dem Lehrerinnendasein. Anneliese zog jetzt nach Berlin, in dieselbe Straße wie ihre Tochter, ihr Sohn und ihre Enkel. Sie half bei den Hausaufgaben, buk Schokokuchen, vor allem aber hatte sie ein Ohr, wenn die Enkel Kummer hatten, mit dem sie sich nicht an ihre Eltern wenden wollten.

Außerdem war da noch das alte Haus der Familie am Stechlinsee, das sie kurz nach der Wende zurückbekommen hatten. Immer wieder kamen hier alle zum Renovieren zusammen, zelteten und kochten im Garten, bis es endlich fertig war.

2016 bekam Anneliese ihre erste Krebsdiagnose. Nicht schlimm, nur eine Episode, da war sie sicher. 2022 war der Krebs wieder da. Wieder das ganze Programm und dabei Annelieses unverwüstliche Hoffnung, dass alles gut würde, so wie immer. Ihr größter Wunsch nach Bestrahlung und Chemo: Bewegung, endlich wieder Schwimmen! Am Ende lag sie auf der Palliativstation im Krankenhaus Havelhöhe.

„Was sagen die Kinder?“, fragte sie ihre Tochter. „Sie vermissen dich“, sagte ihre Tochter. Da fing Anneliese an zu weinen. Über den Tod redete sie nicht; sie war ja noch gar nicht fertig mit dem Leben. Sie aß nichts mehr, trank nichts mehr, konnte nicht mehr sprechen. Doch wenn Gäste da waren und erzählten, blitzten ihre Augen.

Dann der Anruf am 28. November, 6 Uhr 30. Anneliese war gestorben.

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