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Gülşen Kinaçi

© privat

Nachruf auf Gülşen Kinaçi: Sie tanzt, sie rappt, sie fühlt sich frei

Da war so viel Leichtigkeit, auch wenn sie einen Eisberg auf den Schultern trug und einen anderen vor sich herschob

Huckleberry Finn haut ja auch ab. Flieht vor seinem prügelnden Vater und stromert den Mississippi hinab. Gülşens Stiefvater schlägt sie zwar nicht, aber das Verhältnis zu ihm ist so miserabel, dass sie es mit 14 nicht mehr aushält und verschwindet. Sie streunt die Straßen entlang und wohnt bei Freunden in einem Kreuzberger Keller, wo Bushido und Sido und „Die Atzen“ sich rumtreiben und versuchen, Hip-Hop-Stars zu werden. Alles ziemlich viril da, die Mackermentalität der Typen, ihre Mackertexte. Wie soll ein Mädchen das aushalten? Indem es sich in einen Jungen verwandelt. Gülşen schneidet sich die Haare, bindet ihre Brüste ab, zieht weite Hosen und übergroße Hoodies an und nennt sich Finn – wie Huckleberry.

Finn fängt an zu rappen und zu sprayen. Bushido und Sido streiten sich ständig, aber „Die Atzen“ sind freundlich. Finn geht weiter zur Schule, als Gülşen, versteht sich, oder Gülo, wie viele sie nennen. Ihre Mutter, eine Deutsche, die in eine große türkische Familie hineingeheiratet hat, besorgt ihr ein Prepaidhandy und steckt ihr ab und an einen Fünfziger zu. In der Schule kriegen sie nichts von dem Wohnortwechsel mit, aber Gülo muss tricksen, eine Unterschrift da, eine Notlüge dort.

Sie verliebt sich und schreibt „I love you, Till“ auf ihr Lineal. Mit 16 kämpft sie sich durch das Bürokratiegeflecht, den ganzen Papierkram, einen Antrag für eine eigene Wohnung, einen Zuschuss für die erste Einrichtung, die Ausbildung zur Friseurin. Sie tanzt mit ihrer schönen, über alles geliebten, drei Jahre älteren Schwester Rüşan auf Partys. Sie springen in eine U-Bahn, öffnen die Tür während der Fahrt, und fühlen sich frei.

Punk und Hippie

Nach der Friseurlehre taucht sie in die Punkszene ein. Finn braucht sie nicht mehr. Sie zieht in die Liebigstraße 34, ein besetztes Haus in Friedrichshain. Macht eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau und zusätzlich eine zur Veranstaltungsmanagerin.

Auf der Berufsschule gibt es Übungsessen, die Kochlehrlinge kochen, die Kellner servieren die Gerichte auf Tische, an denen andere Kellner sitzen, die die Gäste mimen. Auf Gülos Teller liegt immer eine extra Portion Garnelen, auf ihrem Dessert thront ein Topping, das sonst keiner hat. Gülo wundert sich. Bis sie herausfindet, wer ihr da so zugetan ist. Gerrik. Eines späten Nachmittags wartet er auf sie vor der Schule. Zum ersten Mal stehen sie sich in ihrer Alltagskleidung gegenüber: Sie komplett in Schwarz, er in lila Flickenschlaghose und gestreiftem Hemd.

Gülo mischt jetzt beides: Punk und Hippie. Zum Schwarz kommt ein Ring am Zeh, an die Fessel ein Glöckchen. Sie läuft oft barfuß.

Gerrik besitzt einen pinkfarbenen Bulli, Gülo tauft ihn „Lollipop“. Sie fahren einfach los und gucken, wie weit sie kommen, schlafen im Wald, waschen sich in Bächen.

Gülo ist 20 und erwartet ein Baby. Sie freut sich grenzenlos. Und weiß, noch bevor die Tochter, die Dilara heißen wird, überhaupt auf der Welt ist, dass sie es ganz anders als ihre Mutter machen wird. Dass sie ihr Kind beschützen und unterstützen wird.

Gülo stellt Dilara, als sie fünf ist, auf den Küchentisch und rappt vor ihr Texte von Sido, und Dilara rappt mit. Sie tanzen wie zwei kleine Derwische zu den Pixies. Dilara sagt, ihre Mutter habe so viel Leichtigkeit ausgestrahlt, „auch wenn sie einen Eisberg auf den Schultern trug und einen anderen vor sich her schob.“

Mutter und Tochter sprechen über alles, die Familie, zu der der Kontakt abgerissen ist, den Stiefvater, über Gülos Trennung von Gerrik, Dilaras Vater. Wäscht Dilara das Geschirr oder saugt oder räumt auf, sagt Gülo: Lass die Hausarbeit, die Schule ist wichtiger. Und: Hör niemals auf zu denken, die Dinge zu hinterfragen. Dilara schließt ihr Abi mit 1,3 ab und beginnt ein Naturwissenschaftsstudium.

Vor solchen Leuten musst du dich in Acht nehmen

Gülo arbeitet in der „Arena Berlin“ als Veranstaltungsmanagerin, trifft Snoop Dogg, der erst auf die Bühne will, wenn man ihm Gras und Prostituierte beschafft, aber sie staucht ihn wie einen bockigen Jungen zusammen. Sie erlebt den Anfang von „Seeed“ mit, was für Rotzbengel damals, lacht sie später. Sie beobachtet Mitte der 2000er Till Lindemann und sagt zu Dilara: Vor solchen Leuten musst du dich in Acht nehmen. Die Menschen, die Gülo begegnen, sind hingerissen von der Stärke dieser Frau, die sich nicht im Geringsten dafür schämt, die Vorfälle der Vergangenheit mit einem Therapeuten zu besprechen.

Rüşan, ihre Schwester, bekommt Krebs. Gülo schmeißt ihren Job hin und kümmert sich um sie, bis zum Tod. Sie kellnert in Restaurants. Ihr Rücken schmerzt. Sie beginnt eine Ausbildung zur Kinder- und Jugendpädagogin, hilft in Einrichtungen in Friedrichshain und Wedding.

Sie wird immer dünner. „Mama hatte immer einen Knackarsch“, sagt Dilara, „auf einmal war der weg.“ Ihr Zustand wird bedenklich, aber Gülo hat Angst, ins Krankenhaus zu gehen, nicht mehr aus dem Krankenhaus herauszukommen. So wie es bei Rüşan war.

Dilara kümmert sich, ununterbrochen, unterbricht ihr Studium. Sie hat eine Tasche gepackt fürs Krankenhaus, falls Gülo sich doch auf den Weg machen will. Aber sie will nicht. Bis es nicht mehr geht.

Die Ärzte sagen: Sie haben Krebs, sie werden sterben, wir können nichts mehr machen. Und da, in diesem Moment, bäumt sich Gülo auf. Sie möchte eine Chemo und eine Strahlentherapie. Die Ärzte stimmen zögerlich zu. Und der Krebs verschwindet fast vollständig. Keiner der Mediziner versteht, warum, so etwas haben sie noch nicht gesehen. Dilara setzt sich zum Spaß in Gülos Rollstuhl, und Gülo schafft es, Dilara über einen kleinen Berg zu schieben.

Aber wie soll es weiter gehen? Die Ärzte haben keine Idee, welche Behandlung jetzt die richtige wäre. Sie suchen. Und während sie suchen, breitet sich die Krankheit erneut aus.

Gülo liegt im Bett, Dilara schmiegt sich an sie. Flüstert in ihr Ohr: Ich bin da. Sie tastet unter der Decke nach Gülos Puls. Sie kann ihn nicht mehr fühlen.

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