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Berlin: Porträt: Otto Prokop: Nie ohne meine Fliege!

Die letzte Frage bewegt ihn sichtlich. Er wirkt sprachlos.

Die letzte Frage bewegt ihn sichtlich. Er wirkt sprachlos. Ja, sagt er, langsam und gedehnt, stützt sich auf den Schreibtisch, blickt auf die Kisten und Kartons voller Geschenke und Briefe, die aus aller Welt gekommen sind, und wiederholt leise, was wir von ihm wissen möchten: "Welchen Wunsch habe ich zu meinem 80. Geburtstag?... Dass ich vorher ausscheide, vor meiner Frau und meinen Kindern. Bis dahin will ich wirken, solange es geht - und vielleicht doch noch jemanden finden, dem ich einmal meine Biografie zum Druck anvertraue."

Prof. Dr. med. Dr. med. h. c. mult. Otto Prokop, der gestern seinen 80. Geburtstag feierte, geht wie eh und je in die Hannoversche Straße 6, in "seine" Gerichtsmedizin: Längst sind die Schüler von einst die Chefs von heute, aber ihr alter Prof kommt Tag für Tag in sein Emeritus-Zimmer, schaltet das Klassik-Radio ein, freut sich über Mozart, Schubert und Bach, sitzt unter üppigen Blumen-Bildern, die seine Mutter ("eine österreichische Staatspreisträgerin!") für ihn gemalt hat, klappt die Schreibmaschine auf, beantwortet Briefe und schreibt die Bücher Nummer 63, 64 und 65 - über Akupunktur, Homöopathie und besondere Todesfälle im Sport.

Otto Prokops Anerkennungen für sein Arbeitsleben füllen ein Din-A-4-Blatt, eng beschrieben: Eine Sammlung von Titeln, Ehrenmitgliedschaften, internationalen Preisen, Orden, Ehrenzeichen. Das beginnt mit dem Dr. med. ("sehr gut") für das Thema "Über Mord mit Tierhaaren" an der Universität Bonn 1948 und endet 1998 mit der Gedenkmedaille von Niederösterreich. Dazwischen liegen Nationalpreise der DDR, der Beccaria-Preis in Gold der (Bundes-)Deutschen Kriminologischen Gesellschaft und der japanische "Stern der aufgehenden Sonne mit goldenen Strahlen".

Der Mann, der zeitlebens nie ohne Fliege am Hals aus dem Haus geht ("mein Bruder hat 250, ich ein paar weniger"), war fast 30 Jahre lang Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin der Charité. Von 1958 bis 1987. Zeitweise leitete er dazu die Gerichtsmedizin in Halle und Leipzig. Prokops Nachfolger, Gunther Geserick, spricht von außerordentlichem Fleiß und Ideenreichtum, Durchsetzungsvermögen und Ausstrahlungskraft, mit dem sein früherer Chef eine "Berliner Schule" schuf - "davon zeugen seine 27 Habilitanden, hunderte Publikationen und 62 Bücher, darunter Standardwerke der Gerichtsmedizin, der Blutgruppenkunde und der Genetik." Bei den Blutgruppen war er als Forscher vielleicht Deutschlands Nummer 1, Prokop gab seinen Blutgruppengutachten bei Vaterschaftsprozessen eine Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent. Ganz gegenteilig ist eine andere Arbeit - ein für den Laien schauerlicher Bildatlas für gerichtliche Medizin mit 2000 Bildern von Toten. Schätzungsweise 45 000 Leichen hat Otto Prokop seziert, Todesursachen analysiert und protokolliert, in tausenden Gutachen die dunklen Bereiche zwischen Mord und Totschlag belichtet, auch bei Opfern des Grenzregimes der DDR. Nach der Wende kam heraus: Der Unteroffizier Egon Schultz wurde von einem West-Berliner Fluchthelfer zwar angeschossen - neun Todesschüsse aber kamen aus der Kalaschnikow eines Kameraden. Prokops Befund blieb unter Verschluss - und Egon Schultz wurde ein Held im Kalten Krieg. Mit einem entschiedenen Nein beantwortet Otto Prokop jetzt die Frage, ob ihm der Seziertisch fehle: "Ich will nicht mehr. Was früher Arbeit war, ist nun eine seelische Belastung."

Der Jubilar mit dem sprechenden Wiener Charme hatte übrigens nie seine österreichische Staatsbürgerschaft aufgegeben und besaß zwei Pässe. Ein forscher DDR-Grenzer machte zwar nach 1961 Prokops österreichischen Ausweis ungültig und seinen Besitzer so zum DDR-Bürger, der aber besorgte sich flugs einen neuen Pass von seinem Geburtsland. So konnte er - "aber ich war nie in einer Partei!" - reisen, zum Beispiel zu zahllosen Prozessen. "Otto Prokop ist ja nicht nur als Gerichtsmediziner weltbekannt, sondern auch als bedeutendster Sachverständiger und Experte in Fragen von Aberglauben und modernem Okkultismus. In unzähligen Gerichtsprozessen war er als Gutachter bei Verhandlungen gegen betrügerische Hellseher, Wahrsager und Geistheiler tätig", sagt Bernd Heller vom Institut für Klinische Psychologie der FU und erinnert sich an den riesigen Zulauf zu Prokops beliebten Sonntagsvorlesungen, zum Beispiel über den Hellseher Hanussen. Der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses und ehemalige Gesundheitssenator Peter Luther bezeichnet es als großes Glück, dass er Anfang der siebziger Jahre bei Prokop lernen durfte: "Er war die beste Adresse, weil er die Fähigkeit besaß, junge Menschen zu motivieren. Er war als wissenschaftlicher Lehrer eine Faszination. Seine Begeisterung sprang über. Er nahm einen für voll. Und hat bis heute meine Denkweise geprägt. Damals, im Senat, hab ich mich bei schwierigen Entscheidungen gefragt: Wie hätte er entschieden - obwohl er mir übel nahm, dass ich in die Politik gegangen bin."

Der Mediziner, der sein Hobby - eine Sammlung von 300 Photoapparaten - einem Museum vermacht hat, kann und mag nicht mit jenen "besonderen Geschichten" dienen, die in solch ein Jubiläums-Porträt hineingehören. Vielleicht dies: In einem Buch aus dem Jahr 2000 schreibt ein Kollege über deutsche Experten, die sich auch im Weltmaßstab sehen lassen können: Der inzwischen verstorbene Berliner Rechtsmediziner Professor Otto Prokop war auf seinem Gebiet sicher einer von ihnen. Noch heute sind Werke von ihm - insbesondere das Buch Forensische Medizin, eine Art Bibel der Rechtsmedizin, in den Bücherschränken von Gerichtsmedizinern, Gutachtern, Kriminologen, Juristen und Polizisten zu finden." Bei all dem Ruhm beklagt Otto Prokop die "Strafrente", die ihm als Chef eines "kommunistischen Charité-Instituts" jeden Monat überwiesen wird - "40 Prozent von dem, was meine Schüler einmal kriegen", von den Bezügen seiner West-Kollegen ganz zu schweigen.

Am 12. Oktober richtet die Charité ihm zu Ehren ein Symposium aus. Vielleicht macht dann diese Geschichte die Runde, die uns Otto Prokop noch zwischen Tür und Angel erzählt: In einem seiner Bücher beschreibt er einen Täter als typischen Einzelgänger - "Wissen Sie, was die italienische Übersetzung daraus gemacht hat? Einen typischen Beinamputierten."

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