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Marie Lienhards Video „Spaces“ von 2019 wird in Endlosschleife gezeigt. Die VR-Brille nimmt einen mit auf die Reise des Ballons.

© Marie Lienhard

Geht es voran? : Die Zukunft wird überschätzt

In einer lohnenswerten Ausstellung zerlegt das Zeppelin-Museum in Friedrichshafen den „Fetisch Zukunft“. Ein Last-Minute-Tipp für den Bodensee-Urlaub.

Marie Lienhard hat einen Luftballon steigen lassen. Mitsamt Kamera, die Reise über Friedrichshafen wurde etappenweise aufgenommen. Im Zeppelin-Museum sitzt man nun in einem wackelnden Retrosessel und fliegt per VR-Brille mit. Das ist erst noch zauberhaft, ein Ritt über den Bodensee und durch Kumulus-Wolken. Dann geht es immer höher, und es folgt, was passieren muss: Der Ballon zerreißt, der Sturz ist schnell und hart.

Lienhard findet mit einfachen, poetischen Mitteln ein Bild für die Absichten der Ausstellung „Fetisch Zukunft. Utopien der dritten Dimension“. Für das immer mehr, höher und weiter, an dem vor allem die industrialisierten Gesellschaften ihren Fortschritt messen. Die Künstlerin, Jahrgang 1978, dringt mit ihrem Helium-Ballon zwar in schwindelerregende Höhen vor. Aber nach wenigen Minuten platzt der Traum vom unbeschwerten Fliegen.

Ihre Entsprechung hat diese große, wenn auch erwartbare Enttäuschung in dem Video „Afronauts“ von Nuotama Frances Bodomo. In dunstigen Bildern erzählt es vom „Zambian Space Program“ der 1960er Jahre, für das im afrikanischen Zambia Pläne für eine Mondlandung geschmiedet wurden.

Das ambitionierte Projekt scheiterte ebenso wie viele andere Experimente auf dem Weg in die Zukunft, der das Zeppelin-Museum seine Schau in fünf Kapiteln wie „Freiheit“, „Geschwindigkeit“ oder „Unsterblichkeit“ widmet.

Es gibt künstlerische Dystopien, dazu visionäre Projekte wie „Aerocene“, die Luftgeschöpfe von Tomás Saraceno, und Objekte, die die Menschheit vorangebracht haben. Anderes ist zur Marginalie auf dem Laufband des Technoiden geschrumpft  – wie der zauberhafte Wagner-Skytrac-Helikopter D-HANI von 1961. Ein straßenfahrfähiger Versuchshubschrauber, dessen Modell im Besitz des Museums ist.

Eben das macht den Charme des Hauses am nördlichen Bodensee aus – neben seiner neusachlichen Architektur, auch wenn sie aus den 1930er Jahren stammt. Das Zeppelin-Museum sammelt Kunst der Gegenwart. Gleichzeitig hat es die weltgrößte Sammlung zum Thema Luftschifffahrt, vor allem zur Geschichte des Zeppelins, die mit dem Absturz der „Hindenburg“ 1937 katastrophal endete. Eine Kombination, die die zentrale Frage von „Fetisch Zukunft“ geradezu provoziert: Ist die Überwindung der Schwerkraft in den vergangenen 120 Jahren tatsächlich vom Erfolg geprägt?

Dass es von Beginn an Kritik am reinen Fortschrittsglauben gab, zeigen frühe Postkarten aus den 1920er Jahren. Schon damals träume man von fliegenden Städten und individuellem Luftverkehr. Doch die Idee, sämtliche Autos und Busse in die dritte Dimension zu schicken, weil dort mehr Platz ist, wird von Karikaturisten sogleich kommentiert. Das Chaos verlagert sich nur, es hört nicht auf.

Der letzte Raum widmet sich schließlich der Nachhaltigkeit mit der Frage, ob der Griff nach dem Weltall und seine Besiedelung wirklich eine Option ist. Oder bloß der nächste Irrwitz vor dem Fall.

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