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Schwedens zweitgrößte Stadt: Göteborg an der Westküste.

© imago/Westend61

Freispruch nach Kindesmissbrauch?: Schwedens Oberster Gerichtshof prüft Urteil

Ein 50-Jähriger soll eine Zehnjährige vergewaltigt haben – und wird freigesprochen. Der Fall entwickelt sich in Schweden zum Politikum, das Oberste Gericht muss das Urteil nun überprüfen.

„Snippa“. In Schweden kennt das Wort spätestens seit einem Aufklärungsbuch aus dem Jahr 2015 jedes Kind. Es beschreibt umgangssprachlich und kindgerecht das weibliche Geschlecht, meint innere sowie äußere Merkmale.

Im Göteborg entschied das Wort im Februar über Freispruch oder Verurteilung eines mutmaßlichen Vergewaltigers. Vier Richter konnten die Äußerungen einer Zehnjährigen nicht verstehen, sprachen den bereits verurteilten Jörgen S. deshalb vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zweiter Instanz frei.

In seinen Aussagen beschrieb das Mädchen wiederholt, dass S. mit seinem Fingern in ihrer „snippa“ gewesen sei. Die vier Richter glaubten dem Kind laut Urteilsbegründung, konnten aber nicht „zweifellos“ klären, welche Körperteile das Mädchen mit „snippa“ meinte. Eine Verurteilung sei deshalb nicht möglich gewesen.

Generalstaatsanwältin will Freispruch prüfen lassen

Im Herbst vergangenen Jahres war Jörgen S. zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Das Landgericht der westschwedischen Kleinstadt Halmstad sah es als erwiesen an, dass S. die damals Zehnjährige schwer missbraucht habe.

90.000
Unterschriften wurden nur 24 Stunden nach dem Freispruch gesammelt, um Fortbildungen für Jurist:innen bei Sexualdelikten zu fordern.

Am Montag legte die Generalstaatsanwältin des Landes, Petra Lundh, Berufung gegen den Freispruch in zweiter Instanz ein. Das Urteil muss nun vor dem Obersten Gerichtshof erneut überprüft werden.

„Die Aussagen des Kindes können nicht anders gedeutet werden, als dass der Mann einen Finger in ihre Genitalien eingeführt hat“, begründet Lundh ihre Entscheidung. Laut Anklage müsste S. deshalb wegen „Vergewaltigung von Kindern“, so der schwedische Rechtsbegriff, verurteilt werden.

Jörgen S. und das mutmaßliche Opfer kannten sich flüchtig, beide waren in der Heilsarmee in Halmstad aktiv. S. arbeitete dort mehrere Jahre als Hausmeister. Bei einem Sommerfest 2021 soll S., so steht es in der Anklage, das Mädchen gebeten haben, ihm bei kleineren Aufgaben zu helfen.

Allein in einem Abstellraum soll er dann beim Hochheben des Kindes mit seinen Fingern in sie eingedrungen sein. So beschrieb es das Mädchen in verschiedenen Aussagen mehrmals. Beischlafähnliche Handlungen gelten in Schweden immer als Vergewaltigung oder, wie in diesem Fall, als schwerer sexueller Missbrauch von Kindern.

Zeug:innen stützen die Aussagen des Mädchens über den Tathergang

Aussagen von Zeug:innen stützten die Version des Kindes, auch wurden in der Unterhose des Mädchens fremde DNA-Spuren gefunden. Bis heute ist nicht zweifelsfrei geklärt, ob die Spuren von S. stammen.

Man muss das Kind doch fragen, was genau es damit meint.

Emma Sköldberg, Redakteurin des Wörterbuchs der Schwedischen Akademie

Über den Freispruch zeigte sich Schweden im Februar schockiert. Insbesondere die Urteilsbegründung traf auf Unverständnis. Nur 24 Stunden nach dem Freispruch unterschrieben landesweit über 90.000 Menschen eine Petition, die vom Justizminister Gunnar Strömmer Fortbildungen für Jurist:innen bei Sexualdelikten fordert.

Das Mädchen nutzte in seiner Aussage über den Tathergang das Wort „snippa“.  Der Bundesverband für sexuelle Aufklärung RFSU führte das Wort vor 20 Jahren ein, um das ganze weibliche Geschlecht „positiver zu beschreiben“ als umgangssprachlich üblich. Der schwedische Duden definiert „snippa“ aber lediglich als „äußere Geschlechtsmerkmale“ – entgegen einer weitverbreiteten Auffassung innerhalb der Bevölkerung.

Genau auf dieser engen Definition fußt aber der Göteborger Freispruch. Denn ob ein Täter das Geschlecht eines Opfers „nur“ berührt oder beischlafähnliche Handlungen, die immer mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind, vornimmt, ist strafrechtlich wichtig.

Der Hashtag „Ich weiß, was eine snippa ist“ verbreitet sich in den sozialen Medien.

© Instagram/Caroline Svelid

Die Schwedische Akademie ist im Land für Sprachregeln verantwortlich, verlegt auch das Wörterbuch mit Zehntausenden Begriffsbestimmungen.

Ende Februar kritisierte die verantwortliche Redakteurin Emma Sköldberg im öffentlich-rechtlichen Fernsehen SVT, dass man das Wörterbuch als Quelle hinzugezogen hat: „Man muss das Kind doch fragen, was genau es damit meint.“ Man wolle die Definition des Wortes nun den gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen.

Umstrittener Rücktritt der beteiligten Schöffen

Eine weitere politische Dimension bekam der Freispruch durch den Rücktritt der am Urteil beteiligten Schöffen. Beide Männer sind Mitglieder der Göteborger Sozialdemokratischen Partei und traten wenige Tage nach dem Freispruch von ihren Positionen am Berufungsgericht zurück.

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Die sozialdemokratische Parteiführung der Stadt suchte vor beiden Rücktritten das Gespräch mit den Schöffen. Nach einem „coachenden Gespräch“ habe man sich gemeinsam entschieden, dass die Politiker ihre Stelle am Gericht verlassen sollten. Jurist:innen beklagen seitdem eine mögliche politische Einflussnahme.

Der Vorsitzende des Nationalen Schöffenbundes, Stefan Blomquist, sagte der Tageszeitung „Dagens Nyheter“, dass es besorgniserregend sei, „wenn Richter:innen ihre Unabhängigkeit verlieren, weil politische Parteien“ mit Urteilen unzufrieden seien.

Auf Twitter verglich der Anwalt Nils Hyllienmark die Rücktritte mit dem zweifelhaften Rechtsstaatsverständnis anderer Länder: „Es ist ein absoluter Skandal, der polnischen und ungarischen Skandalen ebenbürtig ist.“

Die Generalstaatsanwältin Petra Lundh kritisiert in ihrem Berufungsantrag am Montag mehrere Verfahrensfehler. Das Oberste Gericht habe die „Verantwortung, Unklarheiten in Strafverfahren zu beseitigen“.

Folgt Schwedens höchstes Gericht dieser Argumentation, wird der Fall an ein anderes Berufungsgericht zurückverwiesen. Wann genau, ist zu diesem Zeitpunkt unklar.

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