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Februar 2024: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) empfängt Wolodymyr Selenskyj, den Präsidenten der Ukraine in Berlin.

© dpa/Michael Kappeler

Mörderischer Mangel an Ukraine-Unterstützung: Scholz’ Zögern droht zum direkten Krieg mit Russland zu führen

Die Unentschlossenheit bei der Militärhilfe bringt Kiew in eine fatale Situation, die der Westen eigentlich vermeiden wollte. Ist ein Sieg Russlands noch abzuwenden?

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Ukraine ist auf dem Rückzug. Ihre Soldaten müssen strategisch wichtige Ortschaften preisgeben, weil es ihnen an Waffen und Munition fehlt.

Auf einmal scheint wieder möglich, dass Wladimir Putin den Ukrainekrieg gewinnt – obwohl Russland dem Westen wirtschaftlich und technisch weit unterlegen ist und der Nato militärisch.

Wiederholt sich da das Muster Afghanistan? Auch dort haben sich die USA und Europa den Taliban am Ende gebeugt und sind abgezogen. Weil sie es an der unbedingten Entschlossenheit fehlen ließen, den Konflikt zu gewinnen. Weil sie den Faktor Zeit falsch einschätzten. Und sich nicht auf das Wesentliche konzentrierten.

Europa ist in einer ähnlichen Lage wie 1938. Damals gab der Westen die Tschechoslowakei preis – in der Hoffnung, den Frieden zu retten.

Christoph von Marschall, Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion.

Das Wesentliche im Ukrainekrieg ist der verlässliche Nachschub an Waffen und Munition. An Kampfmoral sind die Ukrainer den Russen weit überlegen. Zu welchen Überraschungserfolgen sie fähig sind, haben sie im Sommer 2022 bewiesen: Sie drängten Putins Truppen, die zu Kriegsbeginn Kiew umzingelt hatten, in den Osten zurück.

Doch die Militärhilfe muss rechtzeitig eintreffen. Genau da liegt das Versagen des Westens. Er gibt der Ukraine nicht verlässlich, was sie braucht, um die russischen Besatzer zu vertreiben.

Eskalationsgefahr als Ausrede

Unter Berufung auf eine angeblich weise Vermeidung von Eskalationsgefahr wird zu spät und zu wenig geliefert. Und dann schließen sich Zeitfenster, in denen bestimmte Waffensysteme den Unterschied hätten machen können.

Kanzler Olaf Scholz gehört zu den Zauderern. Die Ukraine hatte Leopard-Kampfpanzer im Frühjahr 2022 erbeten und hätte mit ihnen große Erfolge erzielen können, weil die Russen auf dem Rückzug keine befestigen Verteidigungslinien hatten.

Über den Winter legten sie Minengürtel und Bunker an und bekamen von Verbündeten Drohnen, die Panzer effektiv bekämpfen können. Als die Leopard und Abrams ein Jahr zu spät eintrafen, hatten sie ihren strategischen Wert verloren.

Russland ist bei Artillerie siebenfach überlegen

Das Muster hat sich nun mit Distanzwaffen und Artilleriemunition wiederholt. Mit „Taurus“ und amerikanischen ATACMS ließen sich russische Nachschubwege zerstören.  

Bei der Artilleriemunition sind die Russen den Ukrainern siebenfach überlegen. Die bekommen sie von Nordkorea und Iran. Der Westen hilft der Ukraine nicht in vergleichbarem Maß. Es fehlt an politischem Nachdruck.

Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine nicht verlieren? Kanzler Scholz wird sein Wort brechen.

Christoph von Marschall, Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion.

Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine nicht verlieren: Dieses Versprechen hat Kanzler Scholz den Ukrainern, den Deutschen und den europäischen Verbündeten gegeben. Er wird sein Wort brechen, wenn sich nichts ändert. Und dann so tun, als habe es nicht an ihm gelegen.

Das ist nicht grundfalsch, aber nur die halbe Wahrheit. Entscheidend für die aktuellen Nöte der Ukraine war die monatelange Blockade der US-Politik durch den Wahlkampf. Der war aber absehbar. Die reiche EU müsste aus eigener Kraft fähig sein, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Sie ist ökonomisch siebenmal so stark wie Russland.

Leider stimmt auch, dass andere Anführer Europas ihrer Mitverantwortung nicht gerecht werden: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, Spaniens Premier Pedro Sánchez.

Warum führt Scholz die Ukraine-Koalition nicht?

Aber warum führt Deutschland als stärkstes EU-Land und drittgrößte Wirtschaftsmacht der Erde nicht die Ukraine-Koalition? Wer bei Scholz Führung bestellt, bekommt sie hier nicht.

Das ist mörderisch für die Ukraine. Schlimmer noch: Scholz’ Zaudern kann über kurz oder lang zu dem direkten Krieg gegen Russland führen, den er unbedingt vermeiden möchte.

Wer mag noch darauf vertrauen, dass Putin in der Ukraine stoppt, wenn er dort siegt oder den Krieg mit beträchtlichen Geländegewinnen einfriert? Dass man einen Friedensvertrag mit ihm schließen kann und er ihn einhält?

Putin hat gesagt, was er möchte: das sowjetische Imperium. Dazu gehören Moldawien, Georgien – und das Baltikum, wo deutsche Soldaten stehen. Falls Donald Trump US-Präsident wird und die Nato-Garantie in Frage stellt, wird Europa sich allein schützen müssen.

Das kann es auch – aber nur, wenn es fest entschlossen handelt. Europa ist in einer ähnlichen Lage wie 1938. Damals gab der Westen die Tschechoslowakei preis – in der Hoffnung, den Frieden zu retten.

Die Gefahr ist auch heute offensichtlich. Wenn westliches Zögern Putin zu der Annahme verleitet, er könne im Baltikum weiter machen, geht Olaf Scholz als der Kanzler in die Geschichte ein, der den direkten Krieg gegen Russland durch weise Zurückhaltung verhindern wollte, ihn aber durch sein Zögern mit herbeigeführt hat.

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