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Zwei Besucher betrachten in der Fondation Beyeler die beiden großformatigen Inkjet-Prints “Summer Afternoons“.

© imago/Winfried Rothermel/imago/Winfried Rothermel

Jeff Walls Fotografien in Basel: Rätselbilder zwischen Kunstgeschichte und Alltag

Wenn tote Soldaten miteinander reden: Die Schweizer Fondation Beyeler widmet dem Pionier der digitalen Fotokunst eine umfassende Retrospektive.

Vor gut viereinhalb Jahrzehnten betrat der kanadische Fotograf Jeff Wall erstmals öffentlichkeitswirksam die Kunstszene, als die Nova Gallery in Vancouver „The Destroyed Room“ ausstellte. Das riesige, von hinten illuminierte Diapositiv steckte in einem der Werbung entlehnten Leuchtkasten aus Aluminium, der an die Leuchtröhren-Installationen von Dan Flavin erinnerte.

Die „Lightbox“, die beliebig große Formate und strahlende Brillanz erlaubt, wurde zu Walls Bildsprache, seinem Markenzeichen. Seitdem inszeniert er am liebsten in monumentalen Leuchtkästen farbenprächtige Tableaus, die Zerstörung, Chaos und Entfremdung, Isolation, Marginalisierung und Einsamkeit behandeln. Unter den Fotografen der Gegenwart gilt Wall als Leitfigur. Als zeitgenössischer Künstler trug er dazu bei, Fotografie als anerkannte Kunst zu etablieren.

Von den großen Künstlern inspiriert

Vorbild für Walls „The Destroyed Room“ war das 1827 entstandene, seinerzeit skandalöse Gemälde „La mort de Sardanapal“ von Eugène Delacroix, den Wall sehr schätzt. Für sein eigenes Arrangement baute Wall im Atelier ein verwüstetes Schlafzimmer auf, das aussah wie nach einer Hausdurchsuchung: Halb geleerte Schubladen stehen offen, eine Matratze lehnt aufgeschlitzt an der Wand, und auf dem Boden türmt sich ein Durcheinander von bunten Kleidern, Schuhen, Halsketten und einer Sonnenbrille. Hinweise, wer diesen Vandalismus in dem offenbar von einer Frau bewohnten Raum verursacht hat, gibt es nicht. Die Interpretation bleibt dem Betrachter überlassen.

Durch die Kreuzung inszenierter Realität mit einer kunstgeschichtlichen Ikone spielte Wall mit der vermeintlich dokumentarischen Unmittelbarkeit von Fotografie und mischt so Reportage und Imagination. Bis heute arbeitet er mit narrativ aufgeladenen, mehrdeutigen, von Kunstgeschichte, Alltag und seiner Erinnerung inspirierten „ungeschriebenen Szenarien“, die er im Sinne von Charles Baudelaire als „peinture de la vie moderne“ verstanden wissen möchte.

Die Werke des Kanadiers werden weltweit gezeigt, zuletzt gab es Einzelausstellungen in London, New York und Amsterdam. Nun präsentiert die Fondation Beyeler 50 Arbeiten in einer umfangreichen Retrospektive. Sie reicht vom Anfang seines Schaffens bis hin zu Fotografien aus jüngster Zeit, einige sind erstmals überhaupt öffentlich zu sehen.

Die von Martin Schwander gemeinsam mit dem Künstler kuratierte Schau kombiniert in den elf Sälen 15 ikonische Großbilddiapositive in Leuchtkästen mit großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien und Ink-jet-Farbdrucken wie „Mask Maker“ von 2015.

Jeff Walls „Mask Maker“ (Maskenmacher) von 2015.

© Courtesy Jeff Wall und White Cube/Jeff Wall

Die Bilder führen einen inhaltlichen und formalen Dialog trotz großer Zeitsprünge. Manche Paarung mutet kontrovers an. So treffen „Morning Cleaning“ und „A Donkey in Blackpool“ (beide 1999) bereits im Museums-Foyer aufeinander. Dort stößt eine Putzfrau im berühmten gläsernen Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe auf einen Esel in seinem Stall. Ihre Gemeinsamkeit: Mensch und Tier seien in ähnlich enger Beziehung zum jeweiligen Raum zu sehen, so Jeff Wall.

Die kombinierten Exponate sollen eine Resonanz zwischen Themen, Techniken und Genres erzeugen. Im Katalog erklärt der Künstler auf über 180 Seiten entgegen seiner sonstigen Praxis, die Deutung seiner Rätselbilder grundsätzlich dem Betrachter zu überlassen, ausführlich Ausgangspunkt, Bezüge und aufwändige Arbeitsweise der gezeigten Bilder. In seinen inzwischen 200 hochartifiziellen Werken will er die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, Zufall und Konstruktion, Freiheit und Erfindung ausloten, um die Möglichkeiten von Fotografie künstlerisch zu erweitern. Wegen ihrer Nähe zum Film nennt Jeff Wall seine Methode „Cinematografie“.

Wie eine Filmszene: Jeff Walls „In front of a Nightclub“ von 2006.

© Jeff Wall

Eine unorthodoxe Fotografie

Walls Weg zur Fotokunst war ein intellektueller. In den 1960er Jahren begann der Künstler in Vancouver, wo er 1946 geboren wurde und auch heute lebt, Teile der Stadt zu fotografieren.

Eigentlich wollte er Maler werden, studierte dann aber Kunstgeschichte, zuletzt in London. Die langjährige Beschäftigung mit Kunst, alten Meistern und der Ästhetik der Moderne sowie philosophischen und literarischen Größen führte zu seiner unorthodoxen Fotografie.

Von Delacroix inspiriert: Jeff Wall, „The Thinker“ (Der Denker) von 1986.

© Jeff Wall

Bei Anleihen an Werke von Delacroix (1978 in „The Destroyed Room“, 1986 in „The Storyteller“), Dürer, Rodin und Barlach (1986 in „The Thinker“) oder Manet (1979 in „Picure for Women“) beließ es Wall allerdings nicht. In seine Szenerien geht auch politisches Geschehen ein. So ließ er 1991 im Tableau „Dead Troops Talk“ im Afghanistan-Krieg gefallene Soldaten miteinander sprechen.

Auch Motive von TV Reality Shows verarbeitete er: 2009 entstand auf diese Weise „Search of Promises“. Das Bild erzählt von der polizeilichen Spurensuche in einer Wohnung.

Nach einem Romanszene aus Ralph Ellisons „Der unsichtbare Mann“, 1999–2000.

©  Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel/Jeff Wall

Viele bekannte Arbeiten von Jeff Wall sind jetzt in Basel zu sehen. Darunter seine Umsetzung einer Romanszene von Ralph Elison (1999-2000), ebenso seine Adaption eines Holzschnitts von Hokusai (1993). Heutige Betrachter dürfte vor allem das Partybild „In Front of a Nightclub“ ansprechen, mehr noch sein Diptychon „Summer Afternoons“ mit einem nackten jungen Paar (2015). Es erinnert im lichtdurchfluteten rechten Part mit der barbusigen Blondine auf dem Bett an Edward Hoppers „A Woman in the Sun“ von 1961 und dessen menschenleeren sonnigen Innenraum „Sun in an Empty Room“ zwei Jahre später.

In Walls Werk ist das Sommer-Doppelbild eine Ausnahme. Ansonsten meidet der Künstler Variationen und konzipiert seine Bilder als singuläre Kompositionen. Seine jüngste Arbeit aus dem Jahr 2023 ist ein Gegenstück zu „Summer Afternoons“. Im Mittelpunkt steht geisterhaft eine alte Frau, die abwesend auf das Loch in einer lila Socke schaut, die sie gerade stopft. Es geht dabei um Nachhaltigkeit und den Versuch, Altes, Beschädigtes wieder instand zu setzen.

Pionier digitaler Technologien

Hut, Mann, Baum, Laub: Sämtliche Teile in Jeff Walls „Ein plötzlicher Windstoß (nach Hokusai)„ von 1993 stammen von Einzelbildern.

© Glenstone Museum, Potomac, Maryland/Jeff Wall

Bereits seit den 1990er Jahren bearbeitet Jeff Wall seine Fotografien am Computer und setzt sie aus Einzelbildern digital zusammen. Schon 1993 stammten bei „A Sudden Gust of Wind (after Hokusai)“ sämtliche Teile – Hut, Mann, Baum, Laub - aus verschiedenen Aufnahmen, ohne dass im Nachhinein Spuren von Patchwork erkennbar wurden.

Wall gilt bis heute als Pionier digitaler Bildtechnologie. Seine Fotokunst profitiert zugleich von den negativen Begleiterscheinungen digitaler Möglichkeiten. Längst ist das fotografische Bild zu einem schnelllebigen, flüchtigen Gebrauchsartikel geworden. Jeff Walls sorgsam komponierte, unergründliche Rätselbilder aber widersetzen sich der zirkulierenden Bilderflut. Sie sind nicht rasch verderblich, sondern zeitlos und wollen zwingend bedachtsam angeschaut werden.

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