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Spielkind. Georg Hermann mit seiner Ehefrau im Jahr 1908.

© Marta Wolff/Wikipedia

150 Jahre Georg Hermann: Gescheiterte Bohemiens, gewitzte Blumenverkäufer

Menschlich und verspielt: Georg Hermann gilt als „jüdischer Fontane“. Heute wäre der große Berliner Schriftsteller 150 Jahre alt geworden. Eine Würdigung.

Georg Hermann, der „jüdische Fontane“, als der er in die Literaturgeschichte eingegangen ist, war ein Spielkind. Er bezeichnete sich selbst so. Ein Spielkind im besten Sinne, im Schillerschen nämlich, demzufolge der Mensch nur da ganz einer ist, wo er spielt. Genau das tut dieser bedeutende, am 7. Oktober 1871 in Berlin geborene, einst sehr erfolgreiche und zu Unrecht in Vergessenheit geratene Schriftsteller in seinen kolossalen Romanen – und zwar inhaltlich wie formal.

Sein Debüt von 1897 nannte er entsprechend „Spielkinder“, ein Titel mit Ansage. Darin erzählt er von dem aus gutem Hause stammenden Georg, der im Berlin der Jahrhundertwende, das hier sehr plastisch vor Augen tritt, gern ein Bohemien und Künstler wäre. Der Versuch scheitert ebenso wie seine Liebe zu Lies, einem Mädchen aus einfachen Verhältnissen.

In diesem bewegenden Erstling ist bereits vieles angelegt, das spätere Werke von Hermann kennzeichnen wird: ein naturalistischer Grundduktus, flankiert von fragmentierten Passagen, sensiblen Innenschauen und einem frühen Erproben der Technik des Inneren Monologs, den der Franzose Édouard Dujardin („Geschnittener Lorbeer“) wenige Jahre zuvor erfunden hatte.

Georg Hermann war immer beides: erinnernd und bewahrend auf der einen Seite, progressiv und Neuem gegenüber aufgeschlossen auf der anderen. Und dann ist da diese bestechende, einfühlsame und humane Figurenzeichnung, die sein Markenzeichen darstellt.

Denn durch seine komplexen Figuren entstehen ganze Welten, die seine Gegenwart spiegeln, oder solche, die er, wie in den großen, im Biedermeier angesiedelten Erfolgsromanen „Jettchen Gebert“ und „Henriette Jacoby“ aus der Vergangenheit wieder auferstehen lässt. Letztere bilden eine Art Pendant zu Fontanes großem Eheroman „Effi Briest“.

Der Philosoph Georg Simmel als Vorbild

Sein Personal, auch das ist charakteristisch, rekrutiert der versierte Menschenkenner aus dem gutsituierten Bürgertum, zumal dem jüdischen, dem er selbst entstammt, aber auch aus dem sogenannten „Prekariat“. Der gleichnamige Friseurgehilfe aus dem Roman „Kubinke“ und der gewitzte Blumenverkäufer Emil Lehmann aus dem fulminanten, leider vergriffenen, in der Berliner Halbwelt angesiedelten Roman „Rosenemill“– sie beide sind enge Verwandte von Kästners „Kleinem Mann“ und Döblins „Franz Biberkopf“.

Als Hermann seine Schriftstellerkarriere begann, war sein großes Vorbild Fontane noch am Leben. Im Verlag von dessen Sohn Friedrich erschien sein Erstling, angeblich las ihn der alte Meister noch selbst und fand sogar lobende Worte. Wie Fontane war Hermann ein leidenschaftlicher Causeur und Flaneur. Auch ihn zog es häufig aufs Land, und er beschrieb seine Wanderungen etwa in dem in ironischem Plauderton verfassten „Spaziergang in Potsdam“. Aber auch dem Moloch Großstadt samt seiner Nachtgestalten hatte er sich verschrieben, so im Roman „Die Nacht des Dr. Herzfeld“ (1912), einem hochatmosphärischen, atemlosen Bewusstseinsstrom von immenser Sogkraft und mit hohem Suchtpotential.

Vorbildfunktion hatte für Hermann neben Fontane der Berliner Philosoph und Soziologe Georg Simmel, der in seinem einflussreichen Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ dem Großstädter „Blasiertheit“ als Hauptattribut attestiert. Ursächlich dafür ist die kontinuierliche Reizüberflutung, die zur Abstumpfung und intellektuellen Oberflächlichkeit führt. Man kennt alles, weiß aber im Grunde nichts mehr wirklich zu unterscheiden und entsprechend auch nicht zu goutieren. Diesem Typus ähnelt Dr. Herzfeld. Er ist ein urbaner Nachtwandler und Ästhet, der sich in der funkelnden Magie der Stadt verliert, eine durch und durch tragische Gestalt.

Hermann ist ein Vertreter der klassischen Moderne

Der von Hermann oft zitierte Nietzsche hasste bekanntlich die Großstadt, sie war ihm zu wenig tiefgründig. Auch Hermanns Protagonisten zieht es auffällig häufig aufs Land – auch der im „Dr. Herzfeld“-Folgeroman „Schnee“ (1921) durch den Ersten Weltkrieg vollends desillusionierte Doktor flieht, einer unvollendeten Liebe und einem nicht gelebten Leben nachhängend in die Alpen.

Wenn die Figuren doch in Berlin verweilen, dann immer in Tiergartennähe, wo dem Blick des Autors keine blühende Blume oder auf dem Wasser schwimmende Ente entgeht. Hier ähnelt Hermann Thomas Mann, in dessen Werk das Ländliche und Kleinstädtische ebenfalls eine so wichtige Rolle spielt. Man denke an die vielen Ausflüge und Urlaube in den „Buddenbrooks“, den idyllischen Spaziergang in „Herr und Hund“ oder die totale Abgeschiedenheit von der Zivilisation im „Zauberberg“ – wenn auch weder bei Mann noch bei Hermann über allen Gipfeln unbedingt Ruh' ist.

Derartige Ambivalenzen jedenfalls kennzeichnen schon immer die Werke großer Schriftsteller. Georg Hermann, der beständig zwischen Stadt und Land, Vergangenheit und Gegenwart und den kleinen und großen Leuten schwankt, ist als Vertreter der klassischen Moderne neben Thomas und Heinrich Mann, Franz Werfel oder Stefan Zweig einzureihen.

Dass dies heute eher eine Forderung ist als eine Selbstverständlichkeit, daran sind die Nazis Schuld. Als jüdischer Schriftsteller sah sich Hermann früh von ihnen bedroht, seine Bücher fielen dem Autodafé von 1933 zum Opfer, und er ging mit seiner Familie ins holländische Exil, wo er weiter schriftstellerisch tätig war und auch seinen letzten Roman „Der etruskische Spiegel“ verfasste. Dieser erzählt vom jüdischen Emigranten Harry Frank, einer späten Liebe im faschistischen Rom und vom Erinnern und Vergessen. Den Nazis entkam Hermann nur vorübergehend. 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert und dort im selben Jahr vergast.

In Friedenau liegt ein Gedenkstein

In den neunziger Jahren starteten Gert und Gundel Mattenklott den Versuch, Georg Hermann durch eine groß angelegte, aber leider nie zum Abschluss gebrachte Werkausgabe wieder ins kulturelle Gedächtnis zu hieven. Sein 150. Geburtstag bietet nun erneut Anlass, diesen vielseitigen Impressionisten und Chronisten der grundlegenden Veränderungen, die Berlin immer schon durchmachte, zu entdecken.

„Man fühlte ordentlich, wie die Mieten stiegen“, heißt es in „Kubinke“ über Charlottenburg, den damals „neuen Westen“. Sowohl „Kubinke“ als auch „Die Nacht des Dr. Herzfeld“ und „Schnee“ erscheinen neuaufgelegt in der Anderen Bibliothek. Der Wallstein Verlag plant eine Reihe von Werken Hermanns in Einzelbänden. Den Auftakt machen dieser Tage die Romane „Spielkinder“ und „Der Etruskische Spiegel“, also Früh- und Spätwerk.

In Friedenau erinnert ein Gedenkstein an den Schriftsteller. Er befindet sich im „Georg-Hermann-Garten“ zwischen Stubenrauch- und Goßlerstraße, in deren Nähe er lebte, als er seinen melancholischen Berlinroman „Der kleine Gast“ verfasste. Der Teil des Parks, in dem sich der Stein befindet, gehört heute zum Spielplatz einer Kita. Kein schlechter Ort zur Erinnerung an jemanden, den vor allem das Menschliche und Verspielte auszeichnen und der sich selbst einst als „Spielkind“ bezeichnete.

Tobias Schwartz

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